So kamen die Bilder unter die Leute

Der Künstler Matthias Mansen lebt nicht weit vom Kupferstichkabinett entfernt. Im Umfeld seines Ateliers fischt er aus Containern alte Fußbodendielen, die aus Häusern an der Potsdamer Straße herausgerissen wurden. In dieses Rohmaterial schnitzt er Kerbe um Kerbe, mal dicht an dicht, mal in lockeren Strukturen. Im Papierabzug bleiben genau diese Stellen weiß. Denn nur die erhabenen Partien nehmen die daraufgestrichene Druckerschwärze auf und geben sie an den hellen Bildgrund ab: So funktioniert der Holzschnitt, das älteste Druckverfahren der Welt.

Erst aus einiger Entfernung betrachtet schließen sich Mansens scharfe Schwarzweißkontraste zu Häuserfassaden zusammen. Die Kuratoren haben den mannshohen Druckstock über Eck mit dem spiegelbildlichen Papierabzug gehängt, wie ein aufgeklapptes Buch: Anschaulich kommentiert sich das Medium selbst.

Der Künstler schenkte die kompletten Druckstöcke seiner Serie „Potsdamer Straße“ dem Kupferstichkabinett. Hier liegen sie richtig: Das Haus verfügt bereits über einen kostbaren Bestand historischer Druckplatten aus 600 Jahren. In der Ausstellung „Holzschnitt. 1400 bis heute“ zählen sie zu den interessantesten Objekten.

Das älteste Druckverfahren der Welt

Holzschnittartig? Das Kuratorenteam beleuchtet in ihrer Sommerausstellung mit rund 100 Werken eine künstlerische Technik, von der viele nur eine grob geschnitzte Vorstellung haben. Wer hier hauptsächlich expressives Schwarzweiß im Brücke-Stil erwartet, hat sich geschnitten. Der Holzschnitt war von Anfang an farbig. Mit flinkem Pinsel tuschte man um 1400 wie am Fließband leuchtende Töne auf die gedruckten Umrisslinien. Ob Kartenspiel oder Andachtsbildchen: das um 1400 im süddeutschen Raum erfundene (aber in Asien schon längst bekannte) Druckverfahren avancierte in Windeseile zum ersten Massenmedium Europas. Das nun verfügbare Papier machte es möglich. Kostengünstig und in hoher Stückzahl kamen Bilder unter die Leute: nicht mehr allein den Reichen und der Kirche vorbehalten.

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Der heilige Christophorus für alle. Ein Glücksbringer und Nothelfer für die Hosentasche. Ein Komet war gesehen worden? Ein Rhinozeros? Holzschnitte machten als Flugblätter publik, was für Aufsehen sorgte. Dürer sprang auf den Zug auf, erkannte das künstlerische Potenzial. Zierliche Weinranken mit Nackedeis durchsetzt entwarf sein Kollege Hans Sebald Beham als Wandschmuck, virtuos als endlos fortsetzbaren Rapport gestaltet.

Auch in der Handelsstadt Venedig war man auf Zack. Eine aus 14 Einzelblättern zusammengesetzte Riesenansicht des Markusplatzes zeigt den in seine Prunkgondel steigenden Dogen und elegante Zeitgenossen beim Shoppen von Muranoglas und Esswaren. Damit war der Holzschnitt als virtuose Schwarzweißtechnik voll etabliert. Feine Schräg- und Parallelschraffuren sorgten für Plastizität und Lebendigkeit.

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Aber das Experimentieren ging weiter. In Italien wie in den deutschen Zentren tüftelten die Künstler daran, in Farbe zu drucken. Lucas Cranach datierte seinen Chiaroscuro-Holzschnitt einer Venus sogar ein paar Jahre zurück, um als Erfinder gelten zu können.

Mit dem Farbholzschnitt war die Ära mühsamen Handkolorierens vorbei. Aber zwei oder mehr Druckplatten mussten geschnitten werden, für jeden Farbton eine.

Holzschnitt „Die Katze“, Neudruck vom Stock des 15. Jahrhunderts.Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Dietmar Katz

Im 18. Jahrhundert trieb John Baptist Jackson die pastelligen Nuancen mit bis zu 9 Platten auf die Spitze. Seine Reproduktion einer italienischen Landschaft besticht mit duftig-atmosphärischem Zauber. Der Gegenwartskünstler Francesco Clemente setzt noch eins drauf: Sein aquarellartiges Selbstbildnis bringt es auf 22 Druckstöcke in 49 Arbeitsgängen.

Künstlerisch überzeugender wirkt Helen Frankenthalers „Essence Mulberry“, inspiriert von einem Maulbeerbaum vor dem New Yorker Druckeratelier. Vier Druckstöcke von Eiche bis Sperrholz bearbeitete die abstrakte Expressionistin dafür mit Käsehobel und elektrischer Stichsäge.

[Kupferstichkabinett, bis 11. September, Di-Fr 10-18 Uhr, Sa + So 11-18 Uhr]
In aller Unmittelbarkeit ließ schon Edvard Munch das Material sprechen. Seinen „Kuss“ von 1902 schnitzte er grob aus einem Klotz, zarte Holzmaserung sorgt für einen Hintergrund ohne jedes Gekünstel. Trotzdem schwingt Jugendstil im Formenrhythmus mit.

Auch Kandinskys frühe Farbdrucke blieben davon nicht unberührt. Er schnitt aber nicht in hartes Holz, sondern in modernes Linoleum. Dies nutzte auch die Art Deco-Grafikerin Norbertine von Bresslern-Roth für ihre enorm erfolgreichen Tierdarstellungen.

Auch die Brücke-Künstler haben den Holzschnitt für sich entdeckt

Als große Wiederentdecker des Holzschnitts gelten in der Moderne die Brücke-Künstler. Ihre Kennzeichen waren Rohheit und Wildheit. Diesen Kreativmodus schauten sie sich zur Zeit des Kolonialismus bei importierter indigener Kunst ab. Damit war das Maximum an künstlerischer Radikalität im Holzschnitt aber noch längst nicht erreicht.
Hans Hartung griff zur Axt, um seinen Druckstock zu malträtieren. Ihm fehlte für Feineres schlicht die Geduld, wie er zu Protokoll gab. Wie ein greller Lichtblitz klafft die so geschaffene Schneise im nachtschwarzen Grund.

Kommunikativer geben sich die aktuellen Schriftarbeiten des in Offenbach gebürtigen Nasan Tur. Sein ausgestelltes Werk heißt „Geben und Nehmen“. Am letzten Ausstellungstag sollen in einer Druckaktion davon neue Abzüge entstehen. Das archaische Medium Holzschnitt ist auch im Digitalzeitalter immer noch wandelbar – und fasziniert wie eh und je.