Wunder des Kinos in Zeiten der Repression

Geht das, von den guten alten Zeiten des Kintopp erzählen, und von der chinesischen Kulturrevolution, und es wird kein sentimentaler oder verlogener Film?

Da kommt ein aus dem Umerziehungslager entflohener Sträfling (Yi Zhang) den weiten Weg durch die Wüste Gobi gelaufen – was fantastische Sanddünen-Bilder ermöglicht –, um in einem Provinzkaff eine Vorführung des Propagandastreifens „Heroische Söhne und Töchter“ zu sehen. Nicht wegen des Hauptfilms, sondern wegen der Wochenschau, in der seine Tochter beim Mehlsack- Schleppen auftaucht, eine Sekunde lang. Zhang hat die Tochter seit sechs Jahren nicht gesehen; als er ins Lager kam, war sie acht. So weit der tragische Teil von Zhang Yimous Tragikomödie.

Aber die Vorführung ist bereits vorbei, die Filmrollen stecken in den Satteltaschen eines Motorrads, um in den nächsten Wüstenort gebracht zu werden. Zhangs Vorhaben gerät zur Odyssee – das ist der komische Teil des Films. Erst stiehlt das Waisenmädchen Liu (Liu Haocun) ausgerechnet die Wochenschau- Rolle, denn sie braucht für ihren lese- süchtigen kleinen Bruder Material für einen Lampenschirm. Dann kommt es bei der Jagd nach Liu zu Verwicklungen und Verzögerungen auf staubigen Straßen, mit rumpeligem Laster, Schrottmotorrad und Pferdefuhrwerk. Schließlich landet das Zelluloid zwar am Ziel, aber in verhedderten und verschmutzten losen Streifen. Der Kutscher hatte das die Filmdose sichernde Klebeband zur Reparatur seiner Peitsche verwendet …

Bald hilft der gesamte Ort bei der Rettung der Rolle, unter Anleitung von Movie Fan (!), dem Filmvorführer der zweiten Revolutions-Einheit (Fan Wei). Wie ein siecher Patient wird das Filmknäuel auf einer Bahre in den Saal getragen. Vor dem Kino reihen sich Feuerstellen zum Wasser-Abkochen aneinander, die Streifen werden auf Wäscheleinen gehängt, behutsam gereinigt und mit Fächern trocken gewedelt. Bitte nur eine Brise!

Das Kino als Ort der Erinnerung

Und alle machen mit. Denn alle sehnen sich nach Ablenkung vom harten Alltag, nach den flimmernden Bildern auf der Bettlaken-Leinwand, auf der zunächst die schönsten Schattenbilder von der kollektiven Rettungsaktion erscheinen. Die Spannung steigt: Bekommt Zhang seine Tochter am Ende zu sehen?

Eine Hommage an das Wunder des Kinos in Zeiten der Repression, der Gewalt, der Not: Zhang Yimou, dessen Familie in der Kulturrevolution selbst verfolgt wurde und der zunächst zu den international gefeierten kritischen Autorenfilmern Chinas gehörte, kehrt mit diesem Film zu seinen Anfängen zurück, nachdem er 2008 die Feiern zu den Olympischen Spielen in Peking inszeniert und lange vor allem patriotische Werke und Martial-Arts- Filme realisiert hatte. „Eine Sekunde“ zeichnet sich wieder durch einen spröden, anrührend poetischen und mit feinem Humor durchsetzten Sozialrealismus aus, mit Blick auf jene „einfachen“ Menschen, die versuchen, trotz Armut und trotz Mao halbwegs anständig zu bleiben.

[embedded content]

Weshalb auch dieser Film der chinesischen Zensur zum Opfer fiel. 2019 sollte er im Wettbewerb der Berlinale gezeigt werden und erhielt in letzter Minute keine Endfreigabe der Behörden, als das Festival bereits lief. Zhang Yimou musste umschneiden und nachdrehen. Aber auch die jetzige Version verharmlost die Kulturrevolution nicht. Dem verklärenden Vater-Tochter-Happy-End von „Heroische Söhne und Töchter“ setzt sie eine subtile, der Obrigkeit trotzende Wahlvater-Tochter-Geschichte entgegen, in Gestalt von Zhang und der Streunerin Liu.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Hier der Traum der Filmprojektion, des von der Kulturrevolution verwehrten Familienlebens, da die Rettung der Menschlichkeit: Noch der regimetreue Vorführer, zum Verrat genötigt, tröstet Zhang mit einer heimlichen, das gerettete Zelluloid erneut beschädigenden Solidaritätsgeste, als die Geheimpolizei den Geflüchteten wieder einfängt.

(In acht Berliner Kinos, OmU; ab 16. September auf Mubi)

Zhang Yimou drehte den Film nach einem Erzählstrang des Romans „The Criminal Lu Yanshi“ der in Berlin lebenden Schriftstellerin Yan Geling, auf dessen Basis bereits das Drehbuch zu dessen „Coming Home“ (2014) entstand. Nachdem Yan Geling unter anderem die Corona- Politik von Chinas KP kritisiert hatte, wurde ihr Name offenbar auf Druck der Zensur aus den Credits von „Eine Sekunde“ gestrichen. Nun hat die Autorin den Filmverleih DCM und die Berliner Yorck-Kinogruppe per Anwaltsschreiben dazu aufgefordert, den Verstoß gegen das Urheberrecht zu korrigieren und ihren Namen wieder einzufügen.

Bei einer Preview im Neuen Off am Sonntag protestierte Yan Geling mit anderen vor dem Neuköllner Kino: „Stoppt die chinesische Zensur in Deutschland“. Auf Nachfrage erklärte eine Yorck-Sprecherin dazu: „Es ist uns ein großes Anliegen, dass die Autorin zu ihrem Recht kommt“. Auf der Yorck-Webseite ist Gelings Name nun eingefügt, im Kino wird es eine Hinweistafel im Vorspann geben. Auf dem Filmportal Mubi, wo „Eine Sekunde“ ab 16. September zu sehen sein wird, findet sich ihr Name ebenfalls unter den Credits.