Vor Corona mochte ich deutsche Debatten lieber

Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des Mitteldeutschen Rundfunk in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer.

In den USA kommt die Krise zurück, die eigentliche: Hass, Wahn und Spaltung. Einige Menschen haben inzwischen erforscht, wieso eigentlich so viel Unsinn erzählt und geglaubt und weitererzählt wird: dass der Impfstoff mehr Menschen töte als das Virus; und dass Donald Trump die Wahl von 2020 gewonnen habe. Brendan Nyhan, Politologe in Dartmouth, schreibt, dass in Zeiten sozialer Destabilisierung Gruppenidentität und der Glaube der eigenen Gruppe heilig würden. Nur die Gruppe bietet noch Sicherheit, Klarheit auch. Die Welt und das Leben sind als Konflikt wieder verstehbar: hier wir, dort unser Gegner. In einem solchen Land spielt Wahrheit keine Rolle mehr: Es muss unsere Wahrheit sein, gern eine erfundene. Demagogen nutzen das Stammesdenken, Facebook perfektioniert es.

In den USA nehmen Tempo und Zahl der Impfungen ab, früh, zu früh. Impfstoff wäre da, die Logistik stünde nun auch, doch jetzt ist die republikanische Hälfte der Gesellschaft an der Reihe, die aber via FOX News hört, dass Impfungen linkes Elitenzeugs seien. Bis vor acht Wochen hätten in den USA 60 bis 65 Prozent Geimpfte ausgereicht, um Herdenimmunität zu erreichen; wegen der Mutationen des Virus müssen es jetzt 90 Prozent der Bevölkerung sein. Amerika könnte Covid-19 leicht besiegen, wird es aber nicht schaffen. Die USA von heute, schreibt David Brooks, hätten den Zweiten Weltkrieg nicht gewonnen.

Tagesspiegel-Kolumnist Klaus Brinkbäumer.Foto: Tobias Everke

– In Coronazeiten sinken Ansprüche, nennen wir dies jetzt eine Debatte? „Ist Dennis eigentlich euer Qotenschwarzer?“, fragte der einstige Torwart Jens Lehmann und schrieb sein dummes Wort ohne Quoten-U; er meinte den Sender Sky und den Kollegen Dennis Aogo. Dieser wiederum sagte, Manchester City trainiere die Abwehrarbeit „bis zum Vergasen“. Und Boris Palmer, Tübingens grüner Oberbürgermeister, schrieb auf Facebook einen Satz, den ich nicht zitieren mag, weil ich mich fremdschäme; wie erkläre ich die Sache aber nur? Okay, Palmer schrieb: „Der Aogo ist ein schlimmer Rassist. Hat Frauen seinen N*******wanz angeboten“, im Original stehen Buchstaben statt der Sterne.

Wenn Männer über das Gendern debattieren

– Zu einer Debatte gehören Differenzierungen. Lehmann sagt, sein Satz sei „in einer privaten Nachricht von meinem Handy“ verschickt worden. Palmer sagt, sein Satz sei das Zitat eines „erkennbar völlig grotesken und irren Rassismusvorwurfs“, weshalb jegliche Kritik an dem Satz „ein Lehrstück für die Entstehung eines repressiven Meinungsklimas in unserem Land“ sei; es ist die arroganteste aller Autorenpositionen: „Echt? Ihr alle versteht mich nicht? Mann, seid ihr doof.“ Aogo verharmloste nichts, entschuldigte sich und schwieg.

– Vor Corona mochte ich deutsche Debatten lieber.

– Wenn Männer über das Gendern debattieren, blamieren sie sich auch recht rasch. Friedrich Merz streitet seit Wochen für ein altes Deutsch und wirkt damit, so geht’s und kommt’s, selbst nicht ganz jung. Bei „Markus Lanz“ verwob er nach alter Populistenschule zwei Empörungsthemen: „Ich möchte mich nicht im öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit moralischem Zeigefinger belehren lassen, wie ich zu sprechen habe. Wer gibt gebührenfinanzierten Redakteuren das Recht, dafür Anpassungsdruck zu erzeugen?“ In der wahren Wirklichkeit ist dies Unfug: keine Belehrung und kein Druck nirgends, und was ist ein moralischer Zeigefinger? Gutes Deutsch jedenfalls nicht.

– Ich habe an dieser Stelle vor einem Jahr geschrieben, dass Genderpunkte und -sternchen mich deshalb störten, weil sie den Textfluss stocken ließen. Heute schreibe ich das Gegenteil: stört nicht, stockt nicht, die Sprache fließt einfach weiter; und „LehrerInnen“, mit dieser winzigen Pause vor dem „i“, ist lediglich nicht länger unaufmerksam, nicht länger respektlos.