Im Zeichen der Hauspost
Ob sie sich überhaupt einmal besucht oder wenigstens gesehen haben, Marcel Proust und seine Nachbarin Marie Williams? Über ein Jahrzehnt waren sie Nachbarn in dem Mietshaus am Boulevard Haussmann 102, von 1908 bis zu seinem Auszug 1919, er im ersten Stock, sie im dritten. Doch vor allem schrieben sie sich Briefe, von Stockwerk zu Stockwerk.
Es war eine kleine Sensation, als 23 dieser Briefe von Proust an Williams (und dazu drei an ihren Ehemann, den Zahnarzt Charles Williams), wo auch immer entdeckt und 2013 in Frankreich veröffentlicht wurden
Denn Proust soll nie etwas von seiner Nachbarin erzählt haben, sie sei „nicht bekannt“ gewesen, wie es der Proust-Biograf Jean-Yves Tadie nun auch in seinem Vorwort zu der jetzt unter dem Titel „Briefe an seine Nachbarin“ erschienenen deutschen Ausgabe schreibt. (Aus dem Französischen von Bernd Schwibs, Insel, Berlin 2021, 118 S., 14 €.)
Albaret fand Madame Williams “sehr parfümiert”
Immerhin wusste die Haushälterin des Schriftstellers Bescheid, Céleste Albaret. Sie fand Madame Williams „sehr distinguiert, sehr parfümiert“, wie sie in ihren Erinnerungen gestand, glaubte aber nicht, dass Proust sie „persönlich kannte“.
Doch war das für ihn häufig gar nicht oberstes Gebot, er lebte gern in Briefen, und die erhaltenen Korrespondenzen mit der 1885 geborenen Nachbarin haben zumindest passagenweise nicht nur etwas romanhaftes, wie Tadie meint, sondern es ist auch einige Nähe spürbar.
Er beneidet sie um „ihre schönen Erinnerungen“, lobt ihre Prosa, erzählt ihr von seiner Trauer um Bertrand de Fénelon, der in den Kämpfen des Ersten Weltkriegs starb. Und sie interessiert sich für sein Werk, erzählt ihm von ihrer Nephritis, ihrer Neuritis und anderen Krankheiten, und lässt durchblicken, dass sie unter Einsamkeit leidet: „Ich wünschte so sehr“, schreibt Proust, „dass Ihre Reise Ihnen guttut, was sie durchmachen, hat mir so leidgetan, so unendlich leidgetan“.
Der Lärm war der Auslöser für den Briefwechsel
Bevorzugt geht es in den Briefen natürlich um den Lärm, den die direkt über Prousts Wohnung gelegene Zahnarztpraxis von Williams’ Ehemann verursacht – dieser Lärm dürfte schätzungsweise der Auslöser für den innerhäuslichen Briefwechsel gewesen sein.
Doch auch wenn das Lärmthema und die vielen, für Proust typischen Schmeicheleien, Liebdienereien und Höflichkeitsfloskeln dominieren, finden sich Brief für Brief prosaische Schmuckstücke: Ansichten über Blumen, lyrische Vergleiche, eine Bemerkung über den wahren „Schatz des Herzens“, nämlich „alle Landschaften, die man geliebt hat“ oder Erläuterungen zu seinem entstehenden Romanwerk.
Interessant auch der Austausch über einen ebenfalls nicht so bekannten Proust-Freund, Joachim Clary.
Einmal kündigt Proust an, „in einer der nächsten Wochen“ hinaufkommen zu wollen, um sogleich auf die Hindernisse zu sprechen zu kommen, die sich diesem Vorhaben in den Weg stellen – einen Brief zu schreiben war eben die viel leichtere Übung für ihn, und ein Treffen hätte nur unnötig von der „Recherche“ abgelenkt.