Der Sonderling als Familienmensch: Eine Fotoausstellung zu Franz Kafka
Wie so oft beim Betrachten von Familienalben gibt es einen Moment, in dem das geheimnisvolle Band, das alle über die abstrakte Verwandtschaft hinaus zusammenführt, Gestalt zu gewinnen scheint. Nähe und Distanz zwischen Geschwistern, Glück und Unglück von Ehepaaren, Talente und Schicksale, die schon aus Kindergesichtern sprechen: Im Nachhinein nimmt eine trügerische Ordnung Kontur an.
Wer auf den Spuren der Prager Familie Kafka an die Schwelle zum 20. Jahrhundert zurückreist, gerät vielleicht in Versuchung, in die Mienen und Körperhaltungen neben den eigenen Projektionen etwas hineinzulesen, das Franz Kafka, ihr berühmtester Spross, in seinen Tagebüchern, Briefen und Erzählungen festgehalten hat.
Die Kommentare zu einzelnen Angehörigen, der hochgradig literarisierte „Brief an den Vater“ oder der nach dem Vorbild seines Onkels Siegfried Löwy fiktionalisierte „Landarzt“ deuten früh eine Welt, deren tatsächliche Verhältnisse die Forschung erst sehr viel später beleuchten konnte. Noch heute, 100 Jahre nach dem Tod von Franz Kafka im Juni 1924, sind die Erkenntnisse keineswegs abgeschlossen, und die schöne Ausstellung, die Hans-Gerd Koch im Stabi Kulturwerk kuratiert hat, bildet dafür ein sinnfälliges Beispiel.
Nach Jahrzehnten der Auseinandersetzung mit dem Thema, unter anderem als Redaktionsleiter der Kritischen Gesamtausgabe, war Koch, der auch den begleitenden Bildband herausgegeben hat, eigentlich schon ein wenig kafkamüde. Um einen Vorschlag zum Jubiläum gebeten, wollte er, nachdem das Konvolut der immergleichen Kafka-Fotografien schon lange nicht mehr wächst, bestenfalls eine kleine Vitrine zum familiären Umfeld zusammenstellen.
Material mit eigener Dynamik
Doch das öffentlich kaum oder gar nicht bekannte Material entfaltete eine eigene Dynamik und verteilt sich nunmehr auf neun Abteilungen. Getrennt und verbunden durch halbtransparente Stofffahnen, auf denen Texte wie die Prosaskizze „Großer Lärm“ stark gerasterte Fotografien in Kleinsttypografie nachbilden, führen sie von den Vorfahren bis zu den Nachfahren entlang des Stammbaums.
Was den Eindruck eines notgedrungenen Ausweichens auf thematische Nebenpfade erweckt, führt auf ebendiesem Umweg noch einmal nah an Kafka heran. Denn die Selbststilisierung zum Sonderling und die Widerlegung durch die Einbettung in den Familienverbund, die Koch auffiel, stehen hier unmittelbar nebeneinander. Es sind weniger Text und Bild, die hier auseinanderfallen, als vielmehr Text und Text sowie Bild und Bild.
Kafka entrichtet nicht nur pflichtgemäß sein postalisches Stückchen Liebe an die Eltern, er interessiert sich auch ernsthaft für die entferntere Verwandtschaft. Wenn er auf Fotos, die Ellis Familie in zwei aufeinanderfolgenden Jahren, bei der Sommerfrische an der Ostsee in Mannschaftsstärke zeigen, selber fehlt, so wünschte er den Kindern doch entweder viel Spaß oder entschloss sich zu einem Besuch. 1923 lernte er dabei seine letzte Freundin Dora Diamant kennen. Konsultiert man überdies die Zeugnisse der Angehörigen, rückt Franz Kafka vom Rand, den er dem Klischee nach bewohnte, wieder ein gutes Stück Richtung Mitte.
Neuberechnung der Fliehkräfte
Daraus entsteht kein gänzlich neuer Blick auf Kafka, aber einer, der die Komplexitäten im Zusammenspiel von persönlichem Lebensstoff und literarischer Verwandlung noch einmal steigert. Denn die Fliehkräfte, die sich in seinem Verhältnis zu Frauen entfalteten, die Abstoßungsenergien gegenüber Hermann Kafka, dem temperamentvoll auftrumpfenden Vater, den er, der Scheuere, in dessen Stattlichkeit wohl doch bewunderte, sind ja kein bloßes Hirngespinst. Sie müssen höchstens neu berechnet werden.
Die Entdeckung des Familienmenschen Franz ist aber nur der unerwartetste Aspekt dieser Schau. Historisch verdienstvoll ist ihr Blick auf die Weit- und Weltläufigkeit der Kafkas zwischen Paris und Madrid, Paraguay und dem Belgisch-Kongo. Sie war Teil der jüdischen Emanzipation, die sich zwischen dem Kaiserreich und der Gründung der ersten tschechischen Republik mit dem Ende des Ersten Weltkriegs vollzog, ehe der Holocaust sie zunichtemachte und unter anderem die drei Schwestern Elli, Valli und Ottla in den Tod riss.
Gegenüber dem zur Nachbereitung empfehlenswerten Bildband, der weitaus mehr korrespondierende Texte enthält und in einem prächtigen Duoton-Verfahren mit Blaustich gedruckt ist, hat die Ausstellung den Vorzug, dass sie das fotografische Universum in seiner mitunter frappierenden Unscheinbarkeit aufblättert. Abrupte Formatwechsel und Farbsprünge, die auch die schwarzweißen und sepiagetönten Abzüge prägen, zeugen von der heterogenen Herkunft der Aufnahmen.
Das Repräsentative und im Studio Gestellte steht hier in krasserem Kontrast zu den privaten Schnappschüssen, als es die großgezogenen Reproduktionen, manche davon auch an den Wänden zwischen den Vitrinen, ahnen lassen.
Frappierende Größenverhältnisse
Wie winzig ist das – bekannte – Foto, das Franz und seine Lieblingsschwester Ottla auf dem Altstädter Ring zeigt, wie armselig das Strandfoto, das Kafka zusammen mit einem schnauzbärtigen Unbekannten zeigt, der bis vor Kurzem noch als der Schriftsteller Ernst Weiß galt. Hartmut Binder, dessen opulente Chronik „Ein Leben in Bildern“ Mitte März im Prager Vitalis Verlag neu erscheint, hat auch den Ort von der Ostseeküste zum Lido di Venezia korrigieren können.
Es sind, zusammen mit vielen anderen Revisionsbedürftigkeiten, solche Details, die Kochs Band mittlerweile zur verlässlicheren Quelle machen als den zunächst attraktiver anmutenden, von Klaus Wagenbach noch zu Lebzeiten veranstalteten Band „Bilder aus seinem Leben“.
Archiv in Schuhkartons
Wagenbach hat mit seiner einzigartigen Sammlung jedenfalls den Grundstock auch dieser Schau gelegt. Das im Nachweis parallel genannte Kafka Family Archive mit seinen Dependancen in Prag und London ist in erster Linie ein wohltönendes Synonym für die Schuhkartons, aus denen einige der entlegeneren Funde für diese Schau gerettet wurden.
In einem von Koch ausgewählten Zitat zu einem Bild mit Ellis Kindern Felix und Gerti erinnert sich der Religionsphilosoph Friedrich Thieberger, wie Franz einmal nach einem düsteren Gespräch mit mildem Lächeln nach seiner Brieftasche gegriffen habe und ihm ein Foto mit ebenjenen Kindern präsentiert habe. „Sein ganzer Trost an den sanften Einzelheiten des Lebens lag in seinem Blick“, schreibt Thieberger. Nach dem Besuch dieser Ausstellung klingt das doppelt glaubwürdig..