Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (74): Zehn Lieder über Liebe und Hass
10. Oktober 2022
Es kommt mir etwas surreal vor, doch es ist wahr: Wir sind in Cheltenham, England und neben mir steht Oksana Sabuschko, die bedeutendste Schriftstellerin der heutigen Ukraine, die von meinem Song schwärmt. Darin ist die Originalstimme von Mykola Bazhan zu hören.
Bazhan, der ukrainische Klassiker des 20. Jahrhunderts, schrieb das Gedicht „Der Schwur“ 1941, es war ein ultimatives, hasserfülltes „fuck off“ gegenüber den Nazis, was 81 Jahre später für die heutige Ukraine wieder höchst relevant klingt. Bazhans Aufnahme habe ich mit neuen Strophen zeitgenössischer Dichter ergänzt und Musik dazu geschrieben. Nun ist es einer der zehn „Songs Of Ukrainian Love And Hate“.
Im Herbst 2021 hatten die Kuratorin Oksana Shchur und ich einige Ideen für neue musikalisch-literarische Projekte, aber im März haben wir uns dann für etwas ganz anderes entschieden: ein Album, das über die aktuellen Ereignisse in unserer Heimat erzählt – nicht nur für Ukrainer, sondern auch für alle anderen. Wir luden Grigory Semenchuk und Lyuba Yakimchuk ein, Songtexte zu schreiben.
Grigory schickte uns sofort zwei neue Gedichte. Ich habe fast geheult, als ich sie las und rief ihn an. „Tut mir leid, mein Lieber, bin gerade im Bunker, wieder Luftangriffsalarm bei uns, melde mich später“, schrieb er zurück.
Lyuba, die aus dem seit 2014 von russland okkupierten Pervomaisk stammt, war mit ihrem Sohn vorübergehend in Wien untergekommen. Die Texte, die sie auf Oksanas Anweisung für unser Album gedichtet hat, waren wütender als alles, was ich von ihr bis dahin gelesen hatte.
Ich musste lange überlegen, welche Art von Musik dafür passen könnte und war mit den ersten Entwürfen unzufrieden. Es fehlte etwas … oder vielleicht jemand? Ich weiß nicht mehr, ob es Oksana war oder ich, der an Irena Karpa gedacht hat – wahrscheinlich beide.
Es war Irenas erstes Buch, neben dem Roman „Depeche Mode“ von Serhij Zhadan, das ich in den frühen 2000ern in einer Charkiwer Buchhandlung sah und sofort kaufte – und so die moderne ukrainische Literatur für mich entdeckte. Von der Rückseite erfuhr ich, dass sie auch eine Band hat. Ich habe mich in Irenas Frechheit und ihren Humor verliebt und verfolgte seitdem mit großem Interesse ihre Entwicklung und Erfolge.
Irena Karpa, Kulturattaché in Paris, ist auch mit Texten dabei
2012 war sie mit ihren Kollegen Vorband beim Kiewer Konzert von Marilyn Manson und trat in einem exklusiv für diesen Abend entworfenen Kleid aus Speck auf. Zwei Jahre später, nach dem Beginn des Krieges, waren ihre urkomischen Zeichentrickfilme über die russischen Eindringlinge in der Ukraine sehr beliebt – und der Kulturminister der selbsternannten Donezker Republik unterschrieb ein Urteil, das Karpas Erschießung anordnete.
2015 wurde sie Kulturattaché der ukrainischen Botschaft in Paris. In den letzten Monaten las ich ihre Kolumnen und sah, dass sie oft Gast im französischen Fernsehen ist, wo sie die Lage in der Ukraine kommentiert.
Ich war mir nicht sicher, ob sie überhaupt Zeit finden würde, sich unsere Demos anzuhören, aber sie tat es –und fand sie gut. In den nächsten Tagen sind ihr mehrere Strophen dazu eingefallen und als ich sie bekommen habe, wusste ich, unser Puzzle ist komplett!
Nun sind sie fertig, die zehn Songs über den Krieg, darüber, wie es den Ukrainern gerade geht, was sie lieben und was sie hassen. Am Montag treffen wir in Cheltenham zum ersten Mal alle zusammen. In den Pausen der Proben lesen wir die Nachrichten von den heftigen Bombenangriffen in den ukrainischen Städten und telefonieren mit unseren dortigen Freunden. Es fällt uns schwer, uns auf die Songtexte und Abläufe zu konzentrieren, aber wir sind nach wie vor motiviert.
Und während wir abends auf der Festivalbühne performen und das Publikum mit uns zusammen „One little wish that makes us unite – may Putin die“ singt, erscheint das Album auf Youtube. Wir bekommen bald Dutzende Meldungen von Menschen, die sich bei uns bedanken. Da wissen wir, wir haben alles richtig gemacht.
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