Kolonialismus in Berlin: Für eine neue Erinnerungskultur in der Stadt
Die koloniale Vergangenheit ist ein blinder Fleck in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik. Zum deutschen Reich wurden vor mehr als 100 Jahren Gebiete in Afrika, Ostasien und Ozeanien gezählt – Länder, wie das heutige Kamerun, Togo, Namibia, Ghana, Tansania und Ruanda.
Wie allgegenwärtig die koloniale Vergangenheit im Stadtbild, in der Architektur, in Politik und Religion ist, darauf machen seit Jahren zivilgesellschaftliche Akteure, Gruppen und Initiativen aufmerksam. Es braucht nicht nur eine Sichtbarmachung der kolonialen Spuren, sondern einen konsequenten Perspektivwechsel, sagen sie.
Was wurde erreicht?
In Berlin lief in den vergangenen fünf Jahren das Modellprojekt Dekoloniale, in dem die kritische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus erstmals gebündelt wurde. Seit 2020 haben dabei drei zivilgesellschaftliche Initiativen – die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, E.O.T.O. (Each one teach one) und Berlin Postkolonial – mit dem Stadtmuseum Berlin zusammengearbeitet.
Das Projekt läuft nun Ende des Jahres planmäßig aus. Die Dekoloniale zieht Bilanz mit einer Ausstellung an verschiedenen Orten in Berlin: „Dekoloniale – was bleibt?!“ ist die Schau überschrieben. Das ist Demonstration und Frage zugleich: Was wurde erreicht, wie geht es weiter?
Orte der Kolonialität in Mitte
Das Projekt wurde in den vergangenen fünf Jahren mit insgesamt 3,2 Millionen Euro gefördert, rund zwei Drittel kamen von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt, ein Drittel von der Kulturstiftung des Bundes. Das Stadtmuseum Berlin trat als Vermittler und Verwalter der Finanzen auf, bekam im Zuge der Zusammenarbeit aber auch den „Auftrag“, die eigene koloniale Verstricktheit zu untersuchen. So formuliert es die neue Direktorin des Hauses, Sophie Plagemann beim Pressetermin in der Berliner Nikolaikirche.
Das Museum Nikolaikirche ist einer der sechs Standorte des Stadtmuseums. Und, wie die Dekoloniale-Nachforschungen ergaben, trägt die Kirche ebenfalls Spuren kolonialer Vergangenheit. Eines der dort ausgestellten prunkvollen Grabmale ehrt etwa Carl Constantin von Schnitter, ehemals Festungsbaumeister von Großfriedrichsburg, einem brandenburgischen Kolonialstützpunkt an der westafrikanischen Küste im heutigen Ghana. Und mindestens zwei weitere Geehrte sollen Kolonialakteure sein.
Viel wurde seit 2020 erreicht, zählt Anna Yeboah, Gesamtkoordinatorin der Dekoloniale, beim Pressetermin auf. Es wurden Stolpersteine für schwarze NS-verfolgte Personen verlegt, Orte des Kolonialismus im öffentlichen Raum kommentiert, die nach Kolonialherren benannten Straßen im afrikanischen Viertel in Wedding umbenannt und durch Namen von Personen des antikolonialen Widerstands ersetzt.
Auch drei Kolonialismus-Ausstellungen mit den Bezirksmuseen in Treptow, Kreuzberg und Charlottenburg wurden realisiert, mit dem Ziel den Opfern und Gegnern des Kolonialismus mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als den Tätern.
Erinnerung an die Afrika-Konferenz
Nun ist die Dekoloniale zum Abschluss in Berlin-Mitte gelandet, ihrer Heimstatt. Das Projektbüro befindet sich in der Wilhelmstraße 92. Ein historischer Ort: Wo jetzt ein Plattenbau steht, lag die Reichskanzlei. Dorthin lud Reichskanzler Otto von Bismarck die Vertreter der europäischen Kolonialmächte zur Afrika-Konferenz 1884/1885. Am runden Tisch wurde die Aufteilung Afrikas verhandelt und vertraglich besiegelt, ohne Vertreter der betroffenen Staaten.
Eine Schaufensterausstellung erinnert mit Texten, Videos und Bildern an die, zumindest bei der weißen Bevölkerung, fast vergessene Konferenz. Ein Symposium lädt in Anlehnung an die ursprüngliche Teilnehmerzahl 19 Experten afrikanischer Herkunft ein, mit Vertretern der Europäischen Kommission zu diskutieren. Es sind Philosophinnen, Rechtsexpertinnen, Politikwissenschaftler aus denjenigen afrikanischen Ländern, die von den Folgen des deutschen Kolonialismus betroffen waren und immer noch sind.
Widerstand gegen den Kolonialismus
In der Nikolaikirche sind vier künstlerische Interventionen der „Dekoloniale Berlin Residents“ zu sehen sowie an weiteren Orten im Berliner Stadtraum, etwa im U-Bahnhof Afrikanische Straße. Der ghanaische Künstler Percy Nii Nortey ist einer von ihnen. Er hat die Kirchenfenster der Nikolaikirche mit Stoffcollagen umgestaltet, sie wirken fast wie bunte Bleiglasfenster. Auf den zusammengenähten Textilien sind die Figuren von Schwarzen Männern und Frauen zu sehen.
Sie repräsentieren Marktfrauen, Mechaniker und sonstige Arbeiter in Ghana, denen der Künstler Stoffe zukommen lässt, die er später mit Öl, Benzin und Schmutz befleckt wieder einsammelt und verarbeitet. Die persönlichen Geschichten afrikanischer Communities sowie die Kurzbiografien von Aktivisten des kolonialen Widerstands halten im Rahmen zweier Ausstellungen in der Nikolaikirche Einzug.
Eine Fortsetzung der Dekoloniale ist nach Projektende noch offen. Projektleiterin Nadja Ofuatey-Alazard sagt: „Wir würden das Projekt gerne auf Bundesebene ausweiten. Dazu braucht es den politischen Willen.“ Man wolle die gemachten Erfahrungen, zum Beispiel in Bezug auf die Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und Museen, weitergeben und die dekoloniale Arbeit mit interessierten Initiativen und Institutionen in anderen Städten fortsetzen.