„Yerma“ mokiert sich über das Milieu der digitalen Unternehmer
Ein voll besetzter Saal, keine Maskenpflicht mehr, vor dem Eintritt wird gründlich kontrolliert. Getestet, genesen, geimpft, großer Applaus nach der Vorstellung. Fast alles wie früher – nur dass die Schaubühne in den Ferien durchspielt, sogar mit Premieren. Das hat Modellcharakter, so sollte es bleiben. Dass die Berliner Bühnen im Sommer dichtmachen, war ein hauptstädtischer Anachronismus.
Die Pandemie reißt tiefe Löcher. Es gibt viel nachzuholen. Da hat sich was aufgestaut. Und so rast die Geschichte hier los, als lägen nicht noch zwei aufreibende, enervierende, unterhaltsame Stunden vor den sechs Akteuren. Im Mittelpunkt eine emotional bis zum Bersten aufgeladene Caroline Peters, die nur von sich selbst gestoppt werden kann.
Diese Yerma hockt am Boden auf ihrem Partner John – Christoph Gawenda zeigt hier bereits gebremsten Enthusiasmus. Sie trinken Champagner, reden albernes Zeug über Lesben und Gentrifizierung in Neukölln, die Frau will ficken, der Mann kann nicht oder will nicht. Da scheint das Muster einer leidgestützten Beziehung auf, einer Ehe, die keine ist.
Das Publikum sitzt in zwei gegenüber liegenden Blöcken – dazwischen die Glashaus-Bühne von Lizzie Clachan. Darin bewegt sich das Ensemble wie eingefangene wilde Tiere. Etwas anderes ist der Mensch bei Simon Stone auch nicht: ein mäßig domestiziertes Raubviech. Stone inszeniert mit Leidenschaft die Mikrodramen hoch entwickelter Individuen, die ihre Instinkte entweder verraten oder ihnen zu sehr folgen.
Beides führt in die Katastrophe. Aber erst einmal ist dieser Regisseur ein Dramatiker. Er schreibt Strindberg, Ibsen, die antiken Griechen nicht nur um. Er schreibt auf ihren Schultern neue Stücke. Komplett neu im Ton, in der Dramaturgie. So wird Federico Garcia Lorcas Andalusien, die fanatisch katholische Bauernwelt restlos getilgt und in ein hippes Hier und Heute verschoben. Nur Yerma bleibt, der Name.
Simon Stone macht es sich leicht
Yerma arbeitet als Zeitungsjournalistin und Bloggerin, John macht mit nicht näher erklärten internationalen Sachen viel Geld, jedenfalls geht es eine Weile gut. Er ist viel auf Reisen, nimmt sich außerordentlich wichtig. Sie wünscht sich mit Ende Dreißig ein Kind. Für so einen Plot braucht man keinen Federico Garcia Lorca; höchstens als Lockstoff.
Simon Stone macht es sich leicht, wenn er ins Milieu der Gutsituierten, der digitalen Unternehmer geht – bis an den Rand der Karikatur. In London, wo er die Inszenierung am Young Vic Theatre entwickelt hat, in Berlin, an vielen Orten finden sich auch heute Communities mit starren, patriarchalischen Strukturen.
[Wieder vom 29. bis 31.7. und 1. und 3. bis 8. 8., 10. bis 14. 8. Nur noch wenige Karten.]
Im Original, 1934 in Madrid uraufgeführt, muss Yerma nach dem Willen des Vaters eine Ehe mit einem Mann eingehen, den sie nicht liebt. Sie wollte einen anderen, Victor, nicht Juan. Sie bleibt kinderlos. Juan will keinen Nachwuchs, Sex ist ihm nicht wichtig, jedenfalls nicht mit Yerma, ihm geht es um Geld, Wohlstand und um die Familienehre. „Yerma“ wird, wie Garcia Lorca überhaupt, nicht mehr viel gespielt. Aber es hat Aufführungen gegeben, in denen Juan schwul war und selbst ein Opfer der brutalen Dorfmoral.
Bei Simon Stone ist das kein Punkt, offensichtlich nicht wichtig. Er liebt die Eskalation. Er ist ein Regisseur, dem Schauspieler vertrauen, er schafft eine Atmosphäre giftiger Intimität, sportlicher Hassausbrüche, ausufernder Tiraden – bis das Gegenüber erschöpft aufgibt oder tief Luft holt und zurückballert. Wo es an Zärtlichkeit fehlt, gibt es verletzende Pointen im Überfluss und Überdruss.
Niemand kommt zu Besinnung
Sie sitzen im Glashaus und tun permanent, was man da nicht tun soll. Sie werfen mit Steinen. Yermas Mutter wollte eigentlich keine Kinder. Nun hat sie zwei erwachsene Töchter. Ilse Ritter irrlichtert grandios durch die blitzlichtartigen Szenen. Für Yerma bringt sie kaum Verständnis auf, ihr Kinderwunsch ist der alten Hippiefrau so unverständlich wie die Errungenschaften des Internets. Das macht Ilse Ritter auf unwiderstehliche Art: Sie ist rücksichtslos und doch liebenswert. Maria, ihre jüngere Tochter, wird ungewollt schwanger und würde das Baby am liebsten ihrer Schwester Yerma überlassen.
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Eine schwierige Rolle für Jenny König. Der Text zwingt sie fast schon in eine Comedy-Nummer, wenn sie über egoistische Säuglinge abkotzt. Und bei Yermas junger Kollegin Désirée ist die Grenze überschritten: Carolin Haupt spielt eine Roboterfigur mit superschnellem Humor. Sie sorgt dafür, dass Yerma den privatesten, ekligsten Scheiß publiziert – was Klicks und Likes bringt – und Sex ist eher etwas, woran sie sich am nächsten Morgen nicht erinnern kann.
Kein Wunder bei solchen Typen! Nicht nur John kommt daher wie eine aufgeblasene Null, auch Victor, Yermas Ex-Liebhaber, quatscht krudes Zeug und haut ab, bevor es ernst werden kann. So groß ist Yermas Einsamkeit und zunehmende Isolation. Niemand unternimmt etwas, die Passivität, ja Indolenz ihrer Umgebung treibt sie in den Wahn. Ein Kind! Zig Untersuchungen. Endlose Arztrechnungen. John macht doch noch einen Spermatest zwischen zwei Dienstreisen. Künstliche Befruchtungsversuche. Nichts klappt. Niemand kommt zu Besinnung.
Ein Billigangebot mit misogynen Zügen
Großartig, wie Caroline Peters eine Raketenstufe nach der anderen zündet und überdreht. Geht’s noch? Es geht immer weiter, immer kaputter, komischer, trauriger. Aber warum nur berührt die Geschichte nicht? Es liegt an Simon Stones Hang zur Übertreibung – man betrachtet die beschleunigten Momentaufnahmen als kalte Versuchsanordnung.
Es geht diesen privilegierten Leuten eigentlich gut, und sie machen sich das Leben zur Hölle. An die Stelle menschenverachtender Traditionen tritt der Zwang zur Selbstoptimierung. Das mündet in Selbstzerstörung, in eine Gesellschaft, die schon in der Zweierpartnerschaft, zu schweigen von der Familie, jegliche Empathie, jedes Gefühl von Zusammengehörigkeit vermissen lässt.
Im Grunde ist das ein arg konservativer Befund. Wir amüsieren uns über Yerma und Maria und John und Victor, und dabei sollten wir uns beeilen, denn sie sterben aus, tendenziell. Den schwersten Eingriff erlaubt sich Simon Stone am Schluss. Bei Federico Garcia Lorca macht sich Yerma endlich frei. Der Hass auf den Mann, der sie jahrelang gedemütigt hat, schlägt um in Wut. Sie erwürgt ihn. Caroline Peters muss sich selbst Gewalt antun. Yerma, die Verrückte, räumt sich aus dem Weg. Das ist eine komplette Umkehrung der Kräfte, ein Abschalten des Dramas, ein Billigangebot mit misogynen Zügen.