Bildung, Brennpunkt und Brandstiftung: Warum beim Aufruhr in Frankreich auch Bibliotheken angezündet werden  

Am 30. Juni brannte die städtische Bibliothek L’Alcazar in Marseille lichterloh. Auf Twitter kursierten Videos, die das Flammenmeer zeigten wie Trophäen der Aufständischen, die den Brand bei Nacht gelegt hatten. In Amiens ging die im Bau befindliche Mediathek d’ Étouvie in Flammen auf.

Nach dem Tod des siebzehnjährigen Nahel, der durch die Waffe eines Polizisten starb, brannten Dutzende von Gebäuden im ganzen Land. Entsetzt registriert man in Frankreich: „Der Zorn erstreckt sich auch auf den Sektor des Buches“ – „la colère s’étend aussi au secteur du livre“, wie ein Fachportal für Literatur schreibt. [URL: https://actualitte.com/article/112450/politique-publique/mort-de-nahel-la-colere-s-etend-aussi-au-secteur-du-livre] Bibliotheken seien „kollaterale Opfer“ („les bibliothèques, victimes collatérales“).  

Vergebens rief der Politiker Jean Luc Melanchon dazu auf, keine Grundschulen, Gymnasien und Bibliotheken anzugreifen. [URL: https://www.cnews.fr/france/2023-06-30/emeutes-en-france-jean-luc-melenchon-appelle-ne-pas-toucher-aux-ecoles]

Öffentlich gedeutet werden die Attacken auf Institutionen der Bildung meist als Aufschrei derer, die von ihr ferngehalten, ihrer Chancen beraubt werden. Doch warum besetzen die Zornigen nicht eher solche Bauten, nehmen sie symbolisch in Besitz und fordern ihren Anspruch auf Teilhabe ein? Warum die schiere Destruktivität?

Eindringlich schilderte schon Laurent Cantets Film „Die Klasse“ von 2006 die Atmosphäre einer Schule im 20. Arrondissement von Paris, wo sich Kinder aus migrantischen, bildungsfernen Milieus im verzweifelten Nahkampf mit der zum Lernen erforderlichen Aufmerksamkeit und Sammlung befinden.

Im Jahr davor, im Juni 2005, war in der Cité des 4000, einem „Problemviertel“ von Paris ein Elfjähriger durch eine verirrte Kugel in einem Gefecht zwischen Banden getötet worden. Nicolas Sarkozy, damals Innenminister, versprach: „On va nettoyer au Karcher la cité des 4000“ – man werde den Brennpunkt mit dem Kärcher säubern, dem Flammenwerfer und setzte Hundertschaften an Polizei ein. Auch damals brannten in der Folge Schulen und Bibliotheken.

Der französische Soziologe Denis Merklen hat für sein Buch zu Brandstiftungen an Bibliotheken 70 Fälle zwischen 1996 und 2013 untersucht. Das Phänomen nehme zu, stellte er fest, während sozialer Unruhen, etwa nach der Wahl von Sarkozy zum Präsidenten. Zum Spektrum der Ursachen zählt Merklen Armut und soziales Gefälle, Diskriminierung, Desorientierung und Exklusion.

Ihre besondere Attraktivität als Objekte der Brandstiftung erhalten Schulen und   Bibliotheken, da sie „Tempel des Wissens“ repräsentieren, die stellvertretend für „die Macht“ attackiert werden. So gehören sie zu einem Universum, dessen kultureller Wert und Nutzen nicht erkannt werden. Vielmehr scheinen sie Teil einer Demarkationslinie, die Gesellschaft in ein Innen und Außen teilt.

Angriffe auf diese Institutionen ordnet Merklen der „Counter-Culture“ zu. Den Angreifenden fehlten kollektive Erinnerung und kommunale Identität, den Institutionen fehle die Sprache, mit den Entfremdeten zu kommunizieren.   

Wo Bildung wie eine Festung wirkt, die nicht eingenommen werden kann, ballt sich Wut auf die Vergeblichkeit zusammen, Hass auf ein undurchdringlich wirkendes Geflecht der Privilegien. Das beginnt bereits damit, dass der Wortschatz nie gehoben wurde, der im Inneren der fremd wirkenden Sphäre gebraucht wird.

Ein weiteres Element kommt hinzu, das weniger Beachtung findet: Die Angst unterprivilegierter Gruppen vor dem Aussteigen und Aufsteigen der Ihren. Albert Camus, geboren 1913 im kolonisierten Algerien als Sohn einer alleinerziehenden Analphabetin, kam durch seinen Lehrer und gegen den Widerstand der Familie aufs Gymnasium. Dem Lehrer dankte der Nobelpreisträger für Literatur für seine „Entwurzelung“. Es ist genau dieser Prozess, der als Bedrohung erscheinen kann.

Vor einiger Zeit in einer Küche in Berlin korrigierte die zehnjährige Tochter eines aus Bosnien stammenden Arbeitslosen einen Grammatikfehler ihres Vaters. „Papa, nee, das heißt nicht `geleiht´, das heißt ´geliehen´“, sagte die gute Schülerin. Der Vater kochte: „Halt den Mund! Du brauchst sowieso kein Abitur, du gehst mal zu Aldi an die Kasse!“ Es war ein Schlüsselerlebnis, auch für den Gast, der es miterlebte.   

Klarer kann der Argwohn gegen den Aufstieg von Nachwuchs sich kaum ausdrücken. Das Ressentiment speist sich aus Angst: Jemand „von uns“ übertrifft uns, die Eltern und die Familie, verlässt uns und entwertet uns damit, verrät uns, beschämt uns, unterminiert unsere Identität. 

Unter Tränen fragte neulich eine Berliner Gymnasiastin den Workshopleiter an ihrer Schule: „Sagen Sie mir bitte: Was ist wichtiger, Bildung oder Familie?“ Sie müsse sich entscheiden. Wenn sie Jura studiere, anstatt zu heiraten, werde die Familie sie verstoßen.

Deutlich warnte Präsident Obama vor solchen obstruktiven Haltungen in einer Rede. „Die Regierung allein kann nicht dafür sorgen, dass Kinder etwas lernen“, sagte er. „Kinder können nichts erreichen, solange wir nicht dafür sorgen, dass sie höhere Ansprüche entwickeln, ohne dass wir den Fernseher ausschalten und mit der Verleumdung aufräumen, dass ein schwarzer Jugendlicher mit einem Buch sich ´weiß´ verhält.“  

Sich weiß verhalten, „acting white“, ist unter schwarzen US-Jugendlichen ein Synonym für arrogante Streber und akademische Snobs, die nicht „streetwise“ sind und von der coolen Peergroup gemieden werden. Bildung gilt als Stigma – die Stigmatisierung wird invertiert: Wir werden stigmatisiert, weil wir ungebildet sind? Also stigmatisieren wir die Bildung! Nicht zuletzt bedroht Bildung die Einkapselung fundamentalistischer Islamisten. „Boko Haram“ bedeutet schlicht: Bücher sind haram, also unrein.

Doch die Abwehr von allem was Bildung leisten kann, Horizonterweiterung, intellektuelle Autonomie und Aufstieg aus der Klasse, in die man hineingeboren wurde, ist keineswegs ein ethnisches Monopol. Zwei Typen von Elternschaft lassen sich vielerorts finden. Der eine sagt: Du sollst es mal besser haben als wir! Der andere: Warum sollst Du es besser haben als wir?!  

Großartig erzählt wird eine Geschichte vom Ausbruch aus dem Herkunftsmilieu in Ulla Hahns Roman „Das verborgene Wort“ von 2001. Schonungslos schildert sie, wie die Familie Begabung und Ambition der Tochter zu sabotieren versucht. 

Als die kleine Hildegard anfängt, Bücher zu verschlingen, steigert sich der Unmut ihres Vaters zur Wut. Die Tochter hält sich wohl für was Besseres! Der Vater ist Fabrikarbeiter, die Familie lebt in den 1950er Jahren in einer katholisch geprägten Ortschaft zwischen Köln und Düsseldorf.

Bei einer bildungsbürgerlichen Mitschülerin hat Hildegard die Sphäre kennengelernt, nach der sie sich sehnt. Den Widerwillen dagegen tobt der Vater aus. Er taucht der Tochter das Gesicht in brühheiße Buchstabensuppe, er zerrreißt ihre Bücher. Er zerbricht ihre Zahnspange, Symbol für die verabscheute Ambition der Tochter. Sie soll in die Fabrik gehen, nicht aufs Gymnasium.

Wer sich davon einschüchtern lässt, lenkt die eigene Wut auf die Eltern auf das an, was diese verbieten. Auch darum zünden die Zornigen Bibliotheken an, statt sie zu besetzen. Notwendig sind hunderte von Rollenmodellen – Sportler, Popmusiker, Jugendidole, die sich offensiv mit Büchern zeigen und für Bildung werben.