Taghelle Nächte
Der Auftakt zur neuen Spielzeit ist ganz von seinem Klang erfüllt: Philharmonie, Konzerthaus und das Musikfest starten mit dem mächtigen Trio von Gustav Mahlers Symphonien 7, 5 und 6 in eine Saison der Ungewissheiten. Wird die Kultur im Herbst erneut kalt von Corona erwischt, nehmen die sozialen Spannungen zu, ist der Konzertbesuch entbehrlich, wenn das Geld zum Heizen fehlt?
Mit Mahler haben sich die Programmmacher für einen Komponisten entschieden, der wie ein Seismograph die Erschütterungen seiner Welt registrierte und darauf mit Sentimentalität und Sarkasmus reagierte, mit purer Verzweiflung und unerschütterlicher Liebe. Welche dieser Aspekte seiner Klanguniversen in den Vordergrund treten, liegt in den Händen der Interpreten.
Kirill Petrenko hat eine persönliche Verbindung zu Mahler.In Vorarlberg, wohin seine Familie aus Russland ausgewandert war, dirigierte er über 13 Jahre hinweg einen Zyklus aller Symphonien.
Weder die einsetzende Weltkarriere noch Corona konnten den Philharmoniker-Chef von diesem Herzensvorhaben abbringen. In Berlin hat er sich bislang an die Vierte und die Sechste gewagt, nun folgt die Siebte zur Saisoneröffnung.
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Für Petrenko ist es kein leichter Auftritt in der Philharmonie. Eine schwere Fußverletzung ist nach einer Operation nicht ausgeheilt, sein Pensum für die bevorstehende Konzerttournee nach Salzburg, Luzern und London musste er halbieren. Anmerken lässt sich Petrenko von all dem wenig. Er trägt sehr festes Schuhwerk an diesem Abend und entlastet seinen rechten Fuß immer wieder auf einem Bänkchen.
Die Philharmoniker spielen mit schier schwindelerregender Bravour
Das kann ihn nicht davon abhalten, mit seinen Musikerinnen und Musikern zu tanzen und eine permanent hohe körperliche Spannung einzufordern. Petrenko hält auf seine freundliche Art die Zügel fest in den Händen. Und ganz vom Ende her betrachtet, gelingt ihm dabei etwas Erstaunliches: Der sonst in seinem abrupten Jubelton verstörende Finalsatz klingt wie ein spielend bewältigter athletischer Hindernisparcours.
Dafür gibt es viele Bravorufe, und tatsächlich spielen die Philharmoniker mit schier schwindelerregender Bravour, die Soli von Tenorhorn und Horn suchen ihresgleichen.
Was ihm dieser Mahlers aber bedeutet, kann Petrenko nicht vermitteln: Er knipst das Licht selbst in den beiden „Nachtmusik“ betitelten Sätzen an, spurtet vorbei an den Schatten und Traumgesichten und überspringt das Doppelbödige. Zurück bleibt ein riesenhaftes, oft auch arg lautes Stück. Von der Welt dieser Musik aber fehlt jede Spur.