Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (70): Ania feiert Geburtstag, fern der Heimat
28. September 2022
Sie schließt die Augen, um sich etwas zu wünschen, dann pustet sie – alle Kerzen gehen aus. Es sind zu wenige, nur sieben, mehr konnten wir in der Wohnung auf die Schnelle nicht finden. Alle Gäste bekommen ein Stück Geburtstagstorte. Ania lacht: „Zwar habe ich mir letztes Jahr gewünscht, in eine neue Wohnung umzuziehen“, sagt sie, „aber so habe ich es mir nicht vorgestellt, ehrlich gesagt!“
„Ja, auch ich habe davon geträumt, dass wir endlich wieder mehr Zeit zusammen verbringen und dein Papa nicht immer auf Dienstreisen ist“, fügt die Mutter hinzu. Ihr Mann, mein Cousin Andrij, war eine Zeit lang tatsächlich viel zu oft beruflich unterwegs gewesen. Ich weiß noch, wie er bei einem meiner letzten Charkiw-Besuche sechs Stunden fuhr, um es zum Mittagessen bei seinen Eltern zu schaffen. Als wir am Tisch saßen, kam ein Anruf und er musste sofort zurück. Inzwischen sind seine Familie und er in Berlin, und Ania feiert heute ihren 18. Geburtstag.
Links von ihr sitzt mein Sohn, rechts ihre beste Freundin Lika, die extra aus Poznan eingereist ist, sie essen Torte, machen Witze und besprechen, in welche Bar sie noch feiern gehen wollen. Ania wirkt entspannt und sorgenfrei, aber ich muss trotzdem daran denken, dass sie in ihrem 18. Lebensjahr einiges erlebt hat, was man keinem Jugendlichen wünscht, auch keinem Erwachsenen.
Und wie es heutzutage in jedem Gespräch mit Ukrainern früher oder später passiert, kommen wir auf das Thema „Wo warst du am 24. Februar und wie hast du den Anfang der Kriegseskalation erlebt“, beim Torte-Essen.
„Am Abend davor, als ich mit den Eltern in der Küche saß, wollte ich mit ihnen darüber sprechen, was wir tun sollen, falls es richtig losgeht“, fängt Ania an, „aber sie machten nicht mit. Aufgewacht bin ich kurz nach vier von diesem schrecklichen Krach, als ob jemand mit einem Hammer auf eine Eisenplatte schlagen würde, ganz gruselig! Ich ging raus in die Flur, ich wunderte mich, dass außer mir keiner aufgewacht war.
Ich weckte Papa, ich wollte nicht, dass Mama uns hört, sie war ja im neunten Monat schwanger und konnte nicht immer gut schlafen. Ich sagte zu ihm: ,Hey, der Krieg hat begonnen.‘ Wir setzten uns in die Küche, er nahm sein Handy, zündete eine Zigarette an, las kurz die Nachrichten, aber da stand noch nichts, es war zu früh, und er meinte, wahrscheinlich bilde ich mir das alles nur ein.“
Anias Oma, eine Lehrerin, ging am 24. Februar zur Arbeit, wie jeden Tag
„Na ja, ich war erst um drei im Bett, nicht mal zwei Stunden geschlafen, plörtzlich steht meine Tochter vor mir mit so einer Botschaft, es war ganz schön hart!“, schildert Andrij, wie er es erlebt hat.
„Mich hat die Mutter geweckt“, erzählt Lika, „und sie klang, als sei sie extrem aufgeregt, wolle es aber keinesfalls verraten. Ihre Stimme wirkte also übertrieben ruhig. ,Steh auf, steh bitte ganz normal auf, Töchterchen, alles gut!‘, so ungefähr. Mir war sofort alles klar. Draußen war’s laut, ich schaute auf die Uhr und fragte sie, ob der Krieg ausgebrochen sei.“
Anias Oma wachte um 4.30 Uhr auf, als ihr Wecker klingelte, sie stand immer früh auf, da sie als Lehrerin arbeitete. Aus dem Fenster sah sie, wie etwas in der Ferne brannte, sie dachte, es sei vielleicht ein Kraftwerk. Sie trank ihren Tee, zog sich an und fuhr zur Arbeit, wie jeden Tag.
Sie lächelt, weil es sich heute etwas absurd anhört, und wenn ich die anderen im Raum anschaue, stelle ich fest – es lächeln fast alle. Hätte uns jemand fotografiert, würde der Betrachter später nie erraten können, worüber sich die Menschen auf dem Bild unterhielten.
Wir wechseln zu anderen Themen, denn darüber, was unmittelbar nach dem 24. Februar passiert ist, möchte man nicht an einem Geburtstag reden. Die russischen Panzer auf den Straßen von Charkiw, die Wochen im Keller mit 200 Nachbarn, die Tage der Flucht. Ania stößt auf die Ukraine und den baldigen Sieg an.
Zur Startseite