„Wir könnten genauso gut tot sein“ im Kino: Im Hochhaus regiert die Angst
Der futuristische Wohnturm sitzt wie ein Ufo im deutschen Märchenwald, durch den die Kleinfamilie hetzt, bewaffnet mit Hammer und Axt. Das atmosphärische Befremden beruht auf Gegenseitigkeit: So surreal das Hochhaus inmitten der gräulichen, „Stalker“-artigen Natur erscheint, so absolut sind auch die Abschottungsbemühungen der handverlesen kuratierten Bewohner von St. Phoebus. Die Plätze sind begehrt, auch wenn die Gründe für den zivilen Notstand nicht weiter thematisiert werden. Die abstrakte Setzung verleiht dem Film „Wir könnten genauso gut tot sein“ eine leicht didaktische Parabelhaftigkeit, wie man sie bei ambitionierten Debütfilmen häufig erlebt, manchmal zum Nachteil.
Die Bewohner haben sich von der Außenwelt abgeschottet
Babelsberg-Absolventin Natalia Sinelnikova ist dann aber souverän genug, ihrem Konzept in letzter Konsequenz zu vertrauen. Die Hermetik ihrer Geschichte erzeugt ein glaubwürdiges world building, in dem absurde Komödie und Sozialdrama eine feine Balance eingehen. Schlüsselfigur in der Abschlussproduktion der in Leningrad geborenen Regisseurin ist bezeichnenderweise die Sicherheitschefin dieser Gated Community, Anna. Die rumänische Schauspielerin Ioana Iacob erwies sich schon in Radu Judes bitterböser Politfarce „Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen“ als exzellente Interpretin von Verzweiflungskomik, demnächst ist sie auch in Christoph Hochhäuslers „Sterben lernen“ zu sehen.
Anna lebt mit ihrer 16-jährigen Tochter Iris im „Phoebus Haus“, ihr Job besteht unter anderem darin, die Neubewerber zu prüfen. Eine Aufgabe, deren Sinnhaftigkeit sich Anna nicht erschließt: Aus der Außenwelt dringen keinerlei bedrohliche Signale herein. Aber „Wir könnten genauso gut tot sein“ ist eben auch ein Moralstück über die Dynamik homogener Gemeinschaften – obwohl die Leiterin des Wohnkomplexes die Diversität lobt. Jede:r muss für das Zugehörigkeitsgefühl eine Aufgabe ausfüllen. Und wer gegen die Norm verstößt, macht sich automatisch verdächtig.
Das Regime ist in diesem Fall die Angst. „Das Gefühl, sicher zu sein, ist genauso wichtig wie die Sicherheit selbst“, heißt es einmal. Als der Hund des Hausmeisters (Jörg Schüttauf) verschwindet, wird die fragile Konstitution der Gemeinschaft auf die Probe gestellt. Angst greift um sich. Ein Missgeschick Annas auf nächtlicher Patrouille nährt die Gewissheit, dass der Anlage Gefahr von außen droht. Eine Bürgerwehr bewaffnet sich mit Golfschlägern, Annas Aufruf zur Vernunft macht sie plötzlich zur Außenseiterin der Gemeinschaft, die durch eine irrationale Angst zusammengehalten wird.
Sinelnikovas laborartige Inszenierung ist mustergültig, nicht nur für ein Langfilmdebüt. Jan Mayntz’ Kamera vermisst regelrecht die Räume und engen Gänge in St. Phoebus. Anna wirkt hinter ihren Überwachungsmonitoren im „Aquarium“ in der Empfangshalle des Apartmenthauses wie eine Gefangene – oder auch wie eine Gefängnisaufseherin.
(In neun Berliner Kinos)
Tatsächlich hat sie ein Geheimnis: Auch ihre Tochter ist „verschwunden“. Iris versteckt sich in der gemeinsamen Wohnung, weil sie den eigenen „bösen Blick“ fürchtet, mit dem sie Mitmenschen (und -tiere) mit einem Fluch belegen kann. So zieht die Vertrauensperson Anna zunehmend Misstrauen auf sich – wie im Übrigen alle „Phoebus“-Bewohner mit fremden Nachnamen und komischen Akzenten. Jede Gemeinschaft hat ihre eigenen Ausschlusskriterien, „Wir könnten genauso gut tot sein“ führt vor, wie flüchtig der soziale Status sein kann.
Visar Morina hat in seinem großartigen Drama „Exil“ mit Mišel Maticevic kürzlich eine ähnliche Eskalation zwischen Zugehörigkeit und Paranoia durchgespielt. Sinelnikova orientiert sich dagegen stärker an Vorbildern aus dem neueren griechischen Kino wie Giorgos Lanthimos und dem Genrekino (David Cronenbergs „Shivers“), das hierzulande ja immer noch einen schweren Stand hat. Man kann ihr diese mitunter deutlichen Anleihen leicht nachsehen. Mit „Wir könnten genauso gut tot sein“ hat sich Sinelnikova auf Anhieb als hoffnungsvolle neue Stimme im deutschen Kino etabliert..
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