Lion Feuchtwangers „Exil“ am Berliner Ensemble: Was die Figuren umtreibt, bleibt im Dunkeln
Dieses Scheiß-Exil hat mir meine Liebe kaputtgemacht!“, ruft Anna Trautwein zu vorgerückter Stunde in maximaler Lautstärke über die Rampe des Berliner Ensembles. Dann begeht sie Suizid.
Man sollte sie eigentlich verstehen können. Nicht nur, weil man ihr zu diesem Zeitpunkt bereits drei Stunden lang zugeschaut hat. Sondern auch, weil das Thema des Abends – die existenziellen Nöte von Exilantinnen und Exilanten – mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gerade in deprimierend gegenständlicher Form wieder präsent ist.
Umso erstaunlicher, dass sich die Sache mit dem Verständnis de facto als immense Herausforderung erweist. Man ist Frau Trautwein (Pauline Knof) wirklich dankbar, dass sie sich die Seele auf halber Inszenierungsstrecke schon einmal in sehr ähnlichem Gestus aus dem Leib gebrüllt hatte: „Ich habe einen bewegten Tag hinter mir, ich bin müde!“ Da war man immerhin vorgewarnt.
Vom Innenleben der anderen Figuren erfährt man tatsächlich noch weniger: Seltsam bei einer Textvorlage, die gerade diese individuellen Seelenzustände bis in ihre feinsten Verästelungen hinein zu ihrem Thema macht. Lion Feuchtwangers Roman „Exil“ nämlich inszeniert Luk Perceval zum Saisonauftakt auf der großen Bühne – und gibt damit seinen Einstand als Regisseur am BE. Zusammen mit der Dramaturgin Sibylle Baschung hat er aus dem in jeder Hinsicht epischen 850-Seiter eine knapp dreieinhalbstündige Spielfassung destilliert, Pause inklusive.
Wir befinden uns im Paris des Jahres 1935 – und im Zentrum des Geschehens steht der Münchner Sepp Trautwein, der vom leicht solipsistisch veranlagten Komponisten und Musikprofessor zum gewissensgetriebenen Redakteur einer Exilzeitung wird. Was kann die Kunst bewirken, was die mediale Aufklärung – und erscheint das eine nicht so sinnlos wie das andere im Angesicht der barbarischen Situation? Das ist Feuchtwangers Thema.
Es geht darum, wie das Exil Persönlichkeiten verändert, wie es Menschen von sich selbst und von anderen entfremdet, ohne dass im engeren Sinne jemand daran Schuld hätte. Die Herausforderungen sind hier komplex und die Personen, die sich ihnen konfrontiert sehen, mindestens ambivalent: Selbst im moralisch einwandfreiesten Artikel steckt bei schonungsloser Betrachtung mindestens ein Quäntchen Berufseitelkeit. Und Restspuren von Gewissen kennt – umgekehrt – auch Trautweins Gegenspieler, der Naziblatt-Redakteur Erich Wiesener.
Die verändert das Exil die Persönlichkeit?
Nicht so allerdings in Percevals Inszenierung, die in einem seltsamen äußerlichen Behauptungsmodus daherkommt. Den feinsinnigen Trautwein bayert Oliver Kraushaar als prinzipiell gemütlichen, ja fast phlegmatischen Teddybären-Typus auf die Bühne, dem es vor allem mit den Frauen irgendwie ungemütlich wird.
Da ist, neben Anna, ja noch die junge Redaktionsassistentin Erna Redlich (Lilly Epply), die von der Inszenierung denn auch als eine Art Co-Erzählerin aufgewertet wird. Was diesen Sepp Trautwein aber rein beruflich – und moralisch – an- und umtreibt, bleibt dabei komplett im Dunkeln: eine immense Verkleinerung von Thema und Figur.
Witzfigur mit Kunstgebiss
Und so geht es auch mit dem übrigen Cast weiter: Erich Wiesener? Bei Marc Oliver Schulze ein aalglatter Karrierist, der mit seinen Rampenposen keine Zehntelsekunde lang irgendeinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass er für eine gute Pointe über Leichen gehen würde – und über seine „vierteljüdische“ Partnerin, die von Constanze Becker gespielte Lea de Chassefierre, sowieso. Oder der in Unwürden ins Amt gelangte Gelegenheitsnazi „Spitzi“: bei Peter Moltzen eine Witzfigur mit dauergeblecktem Kunstgebiss, wie man sie schon häufig über die Rampe turnen sah; allzeit einsatzbereit, egal in welcher Epoche und Inszenierung.
Dass Perceval und die Bühnenbildnerin Annette Kurz auch ausstattungstechnisch zum Nächstliegenden greifen, entrückt den Abend noch weiter ins angestaubt Museale: Das Szenario besteht – „Exil“ ist der dritte Teil von Feuchtwangers „Wartesaal“-Trilogie – aus einer Unmenge Stühlen, angeordnet wie in einer großen Bahnhofshalle. Aus einem Teil der Möbel hat man – Stichwort Paris – mit viel Mühe zum Detail einen Eiffelturm errichtet. Nach der Pause – ja, die Illusionen schwinden im „Exil“ – ist der Eiffelturm dann weg, es dominiert die Leere.
Immerhin nehmen jetzt auch die seltsamen Ausdruckstanzszenen ab, mit denen bis dahin ein großer Bewegungschor in hektischen individuellen Verbiegungen wechselweise redaktionelle Betriebsamkeit simuliert oder eigenwillige Vorstellungen vom Pariser Kultur- und Nachtleben offenbart hatte.
Nein, man käme nach diesem Abend nicht darauf, dass „Exil“ gerade ein akutes Thema ist. Sicher: Dass die Inszenierung eigentlich schon für das Jahr 2020 geplant war und pandemiebedingt bis jetzt aufgeschoben werden musste, hat die Arbeit garantiert nicht erleichtert. Und im Übrigen geht es auch nicht darum, Stoffe grundsätzlich zu vergegenwärtigen oder gar mittels plakativer Symbole zwanghaft in ein Heute zu pressen.
Aber die dramatische Weltabgewandtheit, die aus diesem Abend spricht – mit seinen bloßen theatralischen Abziehbildern und seinem Gestus, akute Fragen bestenfalls thesenhaft vor sich her zu tragen, irritiert schon sehr. Christine Wahl
Zur Startseite