Der deutsche Trick
Es blieb leise. Keine Breaking News. Keine Tagesschau. Kein Twittersturm. Nicht einmal eine Pressemitteilung. Unangemessen leise. Denn das, was sich am Hanseatischen Oberlandesgericht (OLG) Hamburg am Donnerstagnachmittag ereignete, war für Urheberrechtsjurist:innen in etwa so, als würde George Lucas eine neue „Stars Wars“-Episode ankündigen.
Eine rechtliche Sturmwarnung. Die das Potenzial hat, die Bedingungen, unter denen man künstlerisch kreativ sein kann, für alle Künste auf Jahre zu bestimmen.
Das alte deutsche Recht war kunstnah gedacht
Was ist passiert? Die Sache, um die es geht, ist alt. Nach 23 Jahren und jetzt zehn Gerichtsentscheidungen wird immer noch über zwei Sekunden Musik gestritten. Zwei Sekunden, die 1977 von der Düsseldorfer Band Kraftwerk als Teil ihres Tracks „Metall auf Metall“ komponiert und eingespielt wurden.
1997 benutzte ein Team um den Produzenten Moses Pelham diese zwei Sekunden als Sample. Zur Dauerschleife geloopt wurde daraus die Rhythmusspur des Songs „Nur mir“ der Rapperin Sabrina Setlur. Gefragt hatten Pelham & Co. nicht. Kraftwerk klagten, unter anderem auf Schadensersatz und Unterlassung. Eine beispiellose Odyssee begann.
Und – das ist die große Nachricht – sie wird weitergehen, zurück zum Bundesgerichtshof (BGH), bei dem die Sache bereits vier Mal war. Und aller Voraussicht nach erneut zum Europäischen Gerichtshof (EuGH). Was ist das Problem? Im Zuge des Metall-auf-Metall-Rechtsstreits kippte der EuGH 2019 den im hiesigen Bearbeitungsrecht seit 1902 geltenden Interessenausgleich deutscher Art als unionsrechtswidrig.
Das alte deutsche Recht war kunstnah gedacht. Es gestattete eine freie Benutzung von geschützten Werkteilen, wenn daraus ein sogenanntes selbstständiges Werk entstand. Strittig war stets, wann der Kipppunkt dahin überschritten war. Und die Gerichte blieben tendenziell restriktiv. Aber die Idee war nachvollziehbar: Macht jemand ewas Eigenes draus, ist eine Übernahme in Ordnung.
Die Gerichte belohnten, wenn das neue Werk sich stark unterschied vom Ausgangsmaterial. „Verblassen“ war der Fachbegriff. Das Übernommene durfte im neuen Kontext nur noch hindurchschimmern, nicht die Hauptsache der ästhetischen Erfahrung sein. Eine Sonderbehandlung gab es nur für humoristisch-kritische Praktiken wie Karikaturen und Parodien. Und für das rechtlich voraussetzungsreiche Zitat. Wenn keines dieser Szenarien griff, benötigte man eine Erlaubnis.
Nach dem EuGH-Urteil 2019 blieben nur die drei Sonderfälle Karikatur, Parodie und Zitat übrig. Bei diesen geht es nie um Verblassen, sondern immer um Interaktion. Sie passen in den meisten Fällen in den Künsten nicht als Rechtfertigung.
Eine Lücke war entstanden. Vieles war nun plötzlich rechtswidrig, die Aufregung war groß. Die bislang letzte Urheberrechtsnovelle zum 7. Juni 2021 reagierte hierauf. Sie führte die einzige zusätzliche Option ein, die das Europarecht derzeit noch bietet: die sogenannte Pastiche-Schranke. Ihre Auslegung soll die besagte Lücke schließen. Und die Möglichkeiten für User Generated Content stärken.
Die Frage ist, ob die Pastiche-Schranke all das leisten kann. Manches spricht dafür, vieles aber auch dagegen. Vor allem enthalten weder das europäische noch das deutsche Recht eine Begriffsbestimmung. Eine EuGH- oder BGH-Entscheidung dazu gibt es bis heute auch nicht.
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Das Urteil des OLG Hamburg ordnete nun das strittige Kraftwerk-Sample als Pastiche ein. Es ist nicht das erste Urteil über diese neue Schranke. Wie der Tagesspiegel kürzliche berichtete, hat das Berliner Landgericht in einem ebenfalls mehrjährigen Streit über eine Fremdübernahme in ein Gemälde des Berliner Malers Martin Eder ebenfalls auf Pastiche befunden. In gleicher Sache hatte das Kammergericht 2019 noch gegen Eder entschieden.
Nun könnte man denken: Nehmen wir jetzt in Fällen wie Eder und Kraftwerk/Pelham einfach die neue Pastische-Schranke. Das Problem ist nur: Weder der deutsche Gesetzgeber noch deutsche Gericht können autonom darüber entscheiden, was Pastiche im Rechtssinne bedeutet.
Es ist ein unbestimmter Rechtsbegriff des Europarechts. Ihre Auslegung obliegt ausschließlich dem EuGH. Deswegen ist das Urteil des OLG Hamburg eine große Sache. Denn während das Berliner Verfahren aus prozessualen Gründen endete, ließ das OLG in Hamburg die Revision zu. Der BGH dürfte die Sache dem EuGH vorlegen und fragen, was ein Pastiche ist.
Gut möglich, dass der EuGH der Pastiche-Schranke engere Grenzen ziehen wird
Aus Sicht der Kultur ist das Urteil des OLG begrüßenswert. Je eher Klarheit geschaffen wird, desto besser. Der US-Musikforscher Ted Gioia hat jüngst im „Atlantic“ gezeigt, dass in den USA ein vergleichbarer Zustand von Rechtsunsicherheit, wie er hierzulande eingetreten ist, zu einem massiven Rückgang von Investitionen in neue Musik geführt hat.
Freilich ist allen klar, dass die Deutschen einen Trick versuchen. Für einen guten Zweck zwar: um ein kunstnahes, kulturell produktives Bearbeitungsrecht zu sichern, wie es das Bundesverfassungsgericht einfordert. Aber doch ein Trick. Eine maximal ausgedehnte Auslegung des unbestimmten Pastiche-Begriffs. Sie soll schaffen, was man auf EU-Ebene nicht durchsetzen konnte: Eine weite Generalklausel, wie sie früher in Deutschland galt. Pastiche wird zum Synonym für Bearbeiten jeder Art und Güte.
Gut möglich, dass der EuGH der Pastiche-Schranke engere Grenzen ziehen wird. Das würde zu seiner bisherigen tendenziell restriktiven Rechtsprechung im Bearbeitungsrecht passen.
Die Fälle Eder und Kraftwerk/Pelham zeigen, was droht, wenn der deutsche Sonderweg nicht klappt. Scheitert die Instrumentalisierung der Pastiche-Schranke vor dem EuGH, wird sehr viel an kultureller Produktion ohne Genehmigung rechtswidrig und ohne Zwangslizenzrecht wie bei Cover-Versionen faktisch unmöglich. Das hatte das Bundesverfassungsgericht bereits 2016 so festgestellt. Deswegen geht es alle in Kultur und Kreativwirtschaft an, was nun auf das Urteil des OLG Hamburg folgen wird.
Der Autor ist Musikwissenschaftler und Jurist. Er hat zwei Bücher zu diesem Prozess geschrieben.