Nur einer ist genervt von Konstanze Klosterhalfen
Unter den 31.000 Menschen hat es vermutlich im Olympiastadion am späten Donnerstagabend nur eine Person gegeben, die – abgesehen von ihren Konkurrentinnen – etwas oder vielleicht sogar ziemlich genervt war von Konstanze Klosterhalfen. Der Hochspringer Mateusz Przybylko jedenfalls fluchte vor sich hin. Er war von den Kampfrichtern zum Springen aufgefordert worden, obwohl die Läuferinnen über 5.000 Meter auf der Strecke waren. Przybylko wartete und wartete; und als der Lauf vorbei war und er endlich springen wollte, machte sich Klosterhalfen noch auf den Weg zu einer kleinen Ehrenrunde und kreuzte erneut Przybylkos Weg, der kurz darauf die Stange bei seinem Sprung riss.
Dieses kleine Malheur, das man einer überglücklichen Konstanze Klosterhalfen kaum anlasten konnte, änderte nichts an einer Welle der Euphorie, die die 25 Jahre alte Frau bei den Fans erzeugte. Klosterhalfen gewann die 5.000 Meter in 14:50,47 Minuten und ist damit die erste Deutsche Europameisterin über diese Distanz.
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Keine Sekunde habe sie an den Sieg geglaubt, sagte sie später. „Ich habe sogar überlegt, gar nicht erst zu laufen.“ Klosterhalfen war erst am Montag über die 10.000 Meter an den Start gegangen und wurde nach einem kräftezehrenden Rennen Vierte. Ihr Trainer, der US-Amerikaner Pete Julian, riet ihr gar zu einem Verzicht. Aber Klosterhalfen wollte laufen, die großartige Stimmung im Olympiastadion aufsaugen und setzte sich über den Rat ihres Trainers hinweg. Der schrieb später auf Instagram: „Sie hat sich das verdient. Ich bin so stolz auf dich, Koko.“
Klosterhalfen war als krasse Außenseiterin in das Rennen gegangen. Nicht, weil man der Deutschen den Titel grundsätzlich nicht zutrauen würde. Sondern wegen ihrer Fitness. Erst im Juni hatte sie sich mit Corona infiziert, ein paar Wochen später trat sie bei den Weltmeisterschaften in Eugene über 5.000 Meter an und schaffte es – immer noch leicht geschwächt – nicht einmal ins Finale. Außerdem befand sich am Donnerstag die für die Türkei startende Yasemin Can im Feld, eine Ausnahmeläuferin, die schon über 10.000 Meter in München erfolgreich war.
Klosterhalfen heftete sich lange an die Fersen von Can. Die gebürtige Keniarein attackierte nach etwas mehr als der Hälfte der Distanz und legte höllische Rundenzeiten vor. Klosterhalfen ließ die Lücke nicht zu groß werden, schloss zwei Runden vor dem Ende zu ihr auf und zog schließlich davon. Das Publikum im Münchner Olympiastadion stand Kopf. Klosterhalfen schlug ungläubig die Hände ins Gesicht.
„Es gibt noch einiges zu tun“
Für Klosterhalfen ist der Titel bei den Europameisterschaften aber nicht die Erfüllung ihrer sportlichen Mission. Im Gegenteil, jetzt soll es erst richtig losgehen. „Es gibt noch einiges zu tun“, sagte sie sogar direkt nach ihrem fulminanten Lauf. Klosterhalfen will ganz oben ankommen, an der Weltspitze. Vielleicht einmal Olympiasiegerin werden.
Ihr Talent und auch ihr Umfeld könnten das möglich machen. Im Jahr 2018 schloss sich Klosterhalfen dem Nike Oregon Projekt (NOP) in den USA an, das damals wohl ambitionierteste Trainingscamp für Mittel- und Langstreckenläufer:innen auf der Welt. Doch der Spiritus Rector, der Trainer Alberto Salazar, hatte Jahre, bevor Klosterhalfen dort anheuerte, einige seiner Läuferinnen erniedrigt und mit Dopingmitteln mindestens experimentiert. Wegen Dopingverstößen wurde Salazar 2019 von der amerikanischen Antidoping-Agentur für vier Jahre gesperrt.
Das NOP gibt es inzwischen nicht mehr offiziell. Es läuft unter anderer Flagge weiter. Teile des alten Personals sind aber immer noch dabei – wie zum Beispiel Klosterhalfens Trainer Pete Julian. Nun gibt es gegen Sportlerinnen wie Klosterhalfen keine Anhaltspunkte für Dopingvergehen oder sonstiges. Aber der alte Salazar-Geist schwebt nun einmal über der Nachfolge-Trainingsgruppe, weshalb auch die Dopingjäger mit genauem Blick auf die Athletinnen und Athleten schauen.
An den Möglichkeiten und an der Ausrichtung des NOP-Nachfolgecamps hat sich nichts geändert: Mit sehr großem Aufwand, finanzieller wie personeller Art, werden nur die talentiertesten und vor allen Dingen die ehrgeizigsten Athletinnen und Athleten gepusht. Konstanze Klosterhalfen ist beides, vor allen Dingen aber talentiert. Das Laufen fühle sich bei ihr manchmal an, als würde sie über die Bahn schweben, sagte sie vor ein paar Jahren einmal.
Schwerelos sah das auch bei ihrem fulminanten Finallauf am Donnerstag aus. „Es ist nicht allein meine Arbeit gewesen, ich habe auch den Ton des Publikums gehört“, sagte sie. „Das ist der schönste Moment in meinem Leben.“