Sex hilft auch nicht weiter

Vielleicht hat sich die Geschichte so abgespielt: Du warst lange weg, auf einem fernen Kontinent oder einem anderen Planeten, an einem unbekannten. Dort gab es kein Theater, die Menschen lasen in alten Büchern und begannen sich daran zu gewöhnen, dass man einander auf kleinen krächzenden Plattformen begegnete. Kaum jemand wagte an Rückkehr zu denken, es gab Schlimmeres.

Und als es eines Abends im Juni dann doch so weit ist, reibst du dir vor Verwunderung die Augen: Da schuften sie immer noch im Halbdunkel, die Drehbühne dreht und dreht sich, die Musik ist laut, die Männer schreien sich die schwarze Seele aus dem verschmierten Anzug, die Frauen sind mindestens halbnackt, Liebe ist nur etwas für Ringer, Freistil.

Wie ganz früher fliegt Kartoffelsalat, dienstbare Geister huschen wie immer mit Handkamera hinter den schwitzenden Schwerabeitern her, die Texte im Akkord lautstark zerkauen. Es hat sich nichts geändert, du warst nie fort, die Pause dauerte nur länger als sonst. Sie spielen immer noch dasselbe Stück, allein der Titel wurde ausgewechselt.

Fünf Stunden dauert es diesmal, eigentlich nicht überlang. Ist schießlich Frank Castorf. Nach etlichen Verschiebungen bringt er am Berliner Ensemble endlich seinen „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ heraus. „Fabian Berlin“. Seine Antwort auf „Babylon Berlin“. Ausflüge in die Parallelzeit der 1920er.

Das liegt in der Luft. Ein neuer, fulminanter „Berlin Alexanderplatz“ war schon im Kino, und der „Fabian“ von Dominik Graf läuft auf der Berlinale. Läuft sich vielleicht auch bald mal tot, die Zwanziger-Manie.

Darum handelt es bei Castorf auch nicht wirklich. Nicht um Erich Kästners zarten Moralisten Jakob Fabian, dem das mit den Frauen und überhaupt alles einfach so passiert. Bei Castorf geht es um Castorf. Vorgetragen werden private Dialoge zwischen einem Mann mit Einfluss und einer Künstlerin, zwischen Berlin und Paris und anderen Städten.

Hier geht alles vor die Hunde, lange schon, mit Lust und guter Laune zum bösen Spiel, und zum Teufel geht es beim „Fabian“ dann auch noch, als Marc Hosemann, der Titelträger, auf den finsteren Wolfgang Michael trifft und Passagen aus dem „Peter Schlemihl“ aufgerufen werden. Als wäre der 1931 erschienene Kästner-Roman nicht schon prallvoll mit Bildern und Anspielungen und Sexszenen.

Weinstein und Schweinstein

Das Schicksal der Bücher: „Fabian“ wurde damals gekürzt und verstümmelt, erst 2013 gab es im Atrium Verlag das Original. Im BE kaum eine Spur von Kästners Ironie und Melancholie. Castorf kann nur hart und laut und blutig. Das Hinterzimmer ist eine Metzgerei mit Schweinehälften und Fleischwolf; ein sprechendes Requisit.

Alles muss da durch. Dazu flaue Weinstein-Schweinstein-Sprüche, von wegen Filmindustrie. Ob Margarita Breitkreiz oder Frank Büttner: Unter vollem Körpereinsatz drohen die Stimmbänder zu reißen. Das Fließband wird kaum je angehalten, nur wenn Frank Büttner und Clara de Pin wie Adam und Eva, wie älterer Mann und junge Geliebte plötzlich eine irre Angst ausstrahlen, nackt und schutzlos.

Als wäre der Lautstärkeregler kaputt. Selbst Andreas Döhler, der Fabians intellektuellen Freund Labude gibt, strotzt in seiner Verzweiflung über die Welt vor Kraft. Marc Hosemann stoppt sowieso nur der Schluss, der Vorhang.

Es hört mit Revuegirls einfach auf. Hosemann slapstickt sich durch die Stunden, sein Gesicht spricht Bände, nie erlahmt die Energie dieses Pechpilzes und Glücksvogels, der zwischen Tarantino-Splatter und commedia dell’arte changiert und das Bühnebild von Aleksandar Denic im Alleingang zu bewegen scheint: Schiffsarchitektur mit „Ufa“-Zeichen im Stil des Kino Universum von Erich Mendelsohn, der heutigen Schaubühne.
„Das Buch hat keine Handlung … und keinen befriedigenden Schluss“, sagte Erich Kästner über den „Fabian“. Das hat der Regisseur so was von exakt umgesetzt. Die Reise führt aus der unbekannten Pandemie ins vertraute Pandämonium.