Ein Leben als Schadensmeldung

Scott, dessen Frau Sarah die Scheidung von ihm will, hat beschlossen, auf dem Supermarktparkplatz zu übernachten. Könnte schlimmer sein. Immerhin hat er alles, was er braucht: Dosenbier, Handypornos und Fast Food. „Den Chicken Wings zog ich die Haut herunter und kaute und schluckte und fühlte, wie ich fetter und fetter wurde, und auch die Welt wurde fetter und fetter“, beschreibt Scott und kommt ins Grübeln: „Ich fragte mich, was die Zukunft für mich bereithielt.“

Wer weiß das schon? Richtig, die Chicken Wings! Sie lachen und flüstern: „Schmerzen“. Und kündigen bei der Gelegenheit an, bald die Herrschaft über den abgefuckten Planeten zu übernehmen.

Scott ist der Erzähler des autofiktionalen Romans „Sarah“, mit dem der US-amerikanische Autor Scott McClanahan sich nach einigen Nischenerfolgen endgültig ins Blickfeld des internationalen Literaturzirkus geschrieben hat. Die bestürmende Loser-Ballade siedelt im Nowhereland von West-Virginia, wo der depressive Protagonist als College-Dozent unterrichtet und seinen privaten Kummer zum Leiden der ganzen Welt hochjazzt.

In schlaglichtartigen Szenen und einem eigensinnigen Hillbilly-Sound, dessen deutsche Übersetzung der Österreicher Clemens Setz besorgt hat, blickt Scott auf das Scheitern seiner Ehe, die Geburt der Kinder, Bibelverbrennungen aus Langeweile, den ersten Kuss, Suizidversuche mit Kinder-Paracetamol und eine stattliche Reihe von Alkoholexzessen zurück. Ein Leben als Schadensmeldung.
„Ich war der beste betrunkene Autofahrer der Welt“, lächelt Marc Oliver Schulze im Neuen Haus des Berliner Ensembles ins Mikrofon. Er trägt einen ausgeleierten Hochzeitsanzug nebst Fake-Rüschenhemd und Turnschuhen (Kostüme: Elina Schnizler), der ihm die Aura eines ranzigen Conferenciers verleiht. Als solcher führt er mit sarkastisch funkelndem Blick auf sich selbst durch die Pannengalerie seiner Existenz.

„Die ganze Zeit passierte mir so saudummer Scheiß.“

Sieht sich berauscht am Steuer über den Highway fliegen, auf gleicher Höhe mit den anderen, abwechselnd mit Gin und Mundwasser gurgelnd – bis er bemerkt, dass seine Kinder ja auf der Rückbank sitzen. „Die ganze Zeit passierte mir so saudummer Scheiß.“
Oliver Reese, Intendant des Berliner Ensembles, bringt „Sarah“ als One-Man-Show des Scheiterns zur Uraufführung – einen Tag nach der Premiere der „Dreigroschenoper“, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aber dieser Abend lohnt sich. Im kargen Raum – ausstaffiert mit Stars-and-Stripes-Flagge und einem alten Kühlschrank voller Bier und Wechselklamotten – wird die Geschichte eines Menschen erlebbar, der den Kontakt zu sich selbst und allem, was er liebt verloren hat.

„Wenn wir uns am absoluten Tiefpunkt glauben, ist das nie der absolute Tiefpunkt“, erklärt ihm seine Mutter. „An unserem absoluten Tiefpunkt sind wir nämlich in den Armen Gottes.“ Schade nur, dass Scott nicht gläubig ist.
Marc Oliver Schulze spielt diesen fantastisch. Mit galliger Melancholie, aber larmoyanzfrei, pointiert in den memorierten Dialogen mit Ehefrau Sarah (die als Krankenschwester arbeitet und aus jedem Wortgefecht als Siegerin hervorgeht), mit überschießender Energie, aber nie über die schönen Reflexionen am Rande dieser Via Dolorosa zum nächsten Walmart hinwegbretternd.

Zum Beispiel, wenn Scott sich fragt, warum sich die Leute eigentlich nicht Dinge tätowieren lassen, die wahr sind. Wie: „Ich habe Angst.“ „Ich bin innerlich tot.“ Das seien die Bilder, die wir wirklich unter der Haut trügen. Die ganz normalen Verlustanzeigen des Alltags (Nächste Vorstellungen: 24., 25.8., 4., 5.9., 20 Uhr, Berliner Ensemble Neues Haus).
Reese inszeniert „Sarah“ in klug verdichteter Fassung, die auf das Kolorit der vom Tagebau verheerten Appalachen in West-Virginia verzichtet, aber die Essenz des Romans im Geiste der großen Verlierergeschichten von Denis Johnson oder Willy Vlautin einfängt. MaClanahan zeichnet nicht nur ein Bild des abgehängten Amerika, sondern stellt Sinnfragen im vollen Bewusstsein ihrer Vergeblichkeit. Einmal nehmen Scott und Sarah einen blinden Mops mit Hodenkrebs bei sich auf, der fortwährend vors Sofa oder die Wände läuft. „Du bist eine Metapher für mein Leben“, bescheinigt Scott dem Hund. „Ich bin auch ein hilfloses Geschöpf.“.