100 Jahre Rundfunkchor Berlin: Mozart war ein Breakdancer
Süß und salzig zugleich, sowohl herb als auch sahnig, mit Biss und zartschmelzend – das sind Assoziationen, die im Gehirn entstehen, während auf der Zunge ein Stück der Schokoladensorte zergeht, die sich der Rundfunkchor Berlin hat kreieren lassen. Aus Anlass seines 100. Gründungsjubiläums, von der Schriftstellerin Tanja Dückers, die mit „Preußisch süß“ ja auch ihre eigene Genussmanufaktur betreibt.
Die drei scheinbar widerstreitenden Begriffspaare passen allerdings ebenso gut auch zum Klang des Rundfunkchores. Denn der kann akustisch einfach alles: Ob unbegleiteten A-Cappella-Gesang oder romantische Chorsinfonik mit großem Orchester, ob Barock, klassische Moderne oder Zeitgenössisches, die 64 Profisängerinnen und -sänger beweisen immer wieder eine stilistische Flexibilität, wie weltweit ihresgleichen sucht.
Künstlerfreundschaft mit den Philharmonikern
In der Broschüre zur Jubiläumssaison 2024/25 bringt es der Rapper Megaloh auf den Punkt: „Als Laie stellt man sich einen Chor meist als homogene Masse vor, die dann eine große Stimme bildet. Aber wenn man ihn aus der Nähe sieht, erkennt man ein schönes Mosaikbild, das aus vielen Farbtupfern besteht.“ Das Kollektiv als freier Zusammenschluss von Individuen, die künstlerisch dieselben Ziele haben, so funktionieren die besten Klassikensembles.
Seien es die Berliner Philharmoniker oder eben der Rundfunkchor Berlin. Kein Wunder also, dass beide eine enge künstlerische Freundschaft verbindet. Sie begann kurz nach dem Mauerfall in der Ära von Claudio Abbado, wuchs zur Vertrautheit während der Zeit von Simon Rattle bei den Philharmonikern und hat sich seit dem Amtsantritt von Kirill Petrenko weiter intensiviert.
Bewegte Geschichte
In sieben verschiedenen Programmen wird der Rundfunkchor in der kommenden Spielzeit gemeinsam mit dem Orchester auftreten, mit so unterschiedlichen Werken wie Ravels „Daphnis et Chloé“, Rachmaninows „Francesca da Rimini“, Beethovens Neunter oder auch Puccinis „Madama Butterfly“.
Kurvig und steinig war der Weg an die Spitze für den Chor, der – als erste Gesangsformation einer Rundfunkanstalt überhaupt – 1925 gegründet wurde, nur zwei Jahre nach dem Start des neuen basisdemokratischen Mediums. 20 Männer und Frauen formierten sich damals zum „Chor der Berliner Funk-Stunde“, der zunächst im Vox-Haus in der Potsdamer Straße arbeitete, ab 1931 dann im neu eröffneten Haus des Rundfunks an der Masurenallee.
Von Charlottenburg nach Oberschöneweide
In der Saisonbroschüre wird die Entwicklung kurzweilig nachgezeichnet, in vielen Schlaglichtern. Aber auch die Schattenseiten werden nicht ausgespart, wie die propagandistische Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten unter dem Chefdirigenten und SS-Mitglied Heinzkarl Weigl.
1942 werden alle Rundfunkchöre aufgelöst, erst nach drei Jahren des Schweigens erweckt Helmut Koch das Ensemble zu neuem Leben. Auf dem Fahrrad klappert er im zerbombten Berlin die Adressen der ehemaligen Mitglieder ab, rekrutiert neue Sängerinnen und Sänger.
Gesungen wird wieder an der Masurenallee, unter sowjetischer Leitung. Bis 1952 ist das Funkhaus eine russische Enklave im Westteil der Stadt, dann erstreiten sich die Briten das Nutzungsrecht für das Gebäude. Für die Sender der Deutschen Demokratischen Republik wird eine ehemalige Sperrholzfabrik an der Nalepastraße in Oberschöneweide umgebaut. Hier wird nun geprobt und aufgenommen, der Chor wächst bis auf 87 Stimmen an.
Helmut Koch bleibt Chefdirigent bis kurz vor seinem Tod, 1974 übernimmt Heinz Rögner, 1982 dann der legendär strenge Dietrich Knothe. Bereits 1957 hatte die erste Italien-Tournee stattfinden können, 1973 geht es erstmals nach Finnland, im Jahr drauf sogar nach Japan, 1988 schließlich wird das erste Gastspiel in Berlin (West) genehmigt.
Glücksfall Hans-Hermann Rehberg
Die Wende bringt Freiheit, aber auch Unsicherheit. Denn die DDR-Staatssender werden aufgelöst, erst 1994 kann der Rundfunkchor unter das organisatorische Dach der neu gegründeten Rundfunkorchester und -chöre GmbH schlüpfen. Dass seit 1990 mit Hans-Hermann Rehberg ein Sänger aus den eigenen Reihen das Management übernommen hat, erweist sich als Glücksfall. Der Bariton mit dem beeindruckenden Organ weiß seinem Ensemble eine Stimme in der Medien- und Konzertlandschaft zu verschaffen – und er denkt innovativ.
Sind die Jahre mit dem britischen Chefdirigenten Robin Gritton von 1994 bis 2001 noch eine Konsolidierungsphase, startet Rehberg mit dem bis 2015 amtierenden Simon Halse dann richtig durch. 2003 werden die Mitsingkonzerte erfunden, bei denen die Profis alljährlich gemeinsam mit 1300 Laien die Philharmonie zum Beben bringen, 2005 startet das Projekt „Broadening the scope of choral music“. Neue Zielgruppen sollen erschlossen werden durch die Kooperation mit verschiedensten Kunstformen.
Besonders die szenischen Projekte sind eine Herausforderung für die Sängerinnen und Sänger, die es gewohnt sind, im Konzert ihre Noten vor Augen zu haben. Hier aber müssen sie selbst komplexeste Partituren auswendig singen und sich zudem bewegen, auch mitten im Publikum wie beim „Human Requiem“. Die 2012 von Jochen Sandig inszenierte Produktion hat der Chor mittlerweile bei Gastspielen in ganz Europa, Asien, Amerika und Australien gezeigt.
Halseys Nachfolger Gijs Leenaars setzt ab 2015 die interdisziplinären Experimente fort, zur Feier des 100. Gründungsjubiläums wird es im März 2025 eine Zusammenarbeit mit der Dance Companie „Flying Steps“ geben. Im Theater am Potsdamer Platz trifft dann Mozarts Requiem auf Breakdance – bewusst mit künstlerisch offenem Ausgang.
Zum Start der Feierlichkeiten tritt der Rundfunkchor am 1. September „umsonst und drinnen“ auf, nämlich beim Gratis-Sonntag in vier verschiedenen Berliner Museen. Im Heimathafen Neukölln richtet sich der Blick im Oktober dann nach vorn, unter anderem mit zwei Auftragswerken. Im Februar geht es im Sendesaal des RBB um Chormusik im Wandel der Zeiten, Ende Mai schließlich wird „The art of choral music“ im Konzerthaus gefeiert, mit Neuer Musik und bewegender Romantik.
Was sich das Publikum künftig wünscht, will der Rundfunkchor bei einem Ideenwettbewerb ermitteln. Bis zum 30. November kann jede und jeder Vorschläge für verrückte Projekt einreichen, für neue Kommunikationsstrategien oder verlockende Teilhabeangebote. Doch egal, wie die Verpackung aussehen mag, am grundsätzlichen künstlerischen Ziel des Ensembles dürfte sich auch in den kommenden Jahrzehnten nichts grundlegend ändern: im gemeinsamen Gesang ein „Orchester menschlicher Stimmen“ zu formen, wie es Hans-Hermann Rehberg poetisch formuliert.