Psychedelik des brechenden Eises: Patti Smith und das Soundwalk Collective in Berlin
Es ist Zufall, dass Patti Smith und das Soundwalk Collective am Samstagabend in der Volksbühne einen Kommentar zur aktuellen deutschen Gegenwart schaffen: An dem Tag, an dem die Atomkraftwerke abgeschaltet werden, startet Smith begleitet von stummen Filmsequenzen und dichter Soundkulisse, ihre Performance mit einer wortgewaltigen Meditation über die Nuklearkatastrophe in Tschernobyl und die verlorene Erde und ihre Kinder, die das Unglück hervorbrachte.
Es ist der erste Akt von „Correspondences, 2023“, einem fortlaufenden Projekt des Soundwalk Collective. Das Kollektiv arbeitet seit zehn Jahren mit der Sängerin und Poetin zusammen. Kopf des Projekts ist Stephan Crasneanscki, französischer Soundkünstler mit Wahlheimat in New York. Zusammen mit seinen Musiker:innen kreiert er Klanglandschaften aus Elektronik, Rhythmen und Soundschnipseln. Für Letztere ist Crasneanscki an entlegene Orte rund um den Globus gereist und hat Geräusche eingesammelt.
Vor dem Publikum zweier ausverkaufter Konzerte hintereinander entsteht ein experimenteller Soundhybrid aus Digitalisiertem und live Gespieltem, bei dem sich die dumpfen Schläge eines Eispickels auf einen massiven Eisquader auf der Bühne, so organisch einfügen, wie das Schlagzeug, das Cello oder eben Crasneansckis Samples.
Angekündigt wird das, was entsteht, als „Klanggrammatiken“. Ein Begriff, der ziemlich prätentiös wirkt – hier wird keine Ordnung, keine Lehre dargelegt. Vielmehr ist „Correspondences“ eine emotionale Erfahrung, die alle Sinne des Publikums anspricht. Zur Klangkulisse werden Filmaufnahmen kombiniert, ebenfalls Schnipsel, mal abstrakt, mal konkret, Kinder im Wald, Wölfe in der Eiswüste, die Elemente Feuer, Wasser und Ausschnitte aus dem Film „Pasolini“ von 2014 mit Willem Dafoe in der Hauptrolle.
Wenn Smith singt, hält das Publikum merklich die Luft an
Das alles fügt sich zu einem anregenden Hintergrund, vor dem Patti Smith glänzt. Smith ungebrochene Bühnenpräsenz ist keine Überraschung und ergreift einen dennoch intensiv, wenn sie leibhaftig vor einem steht. Die 76-Jährige klingt, als hätte sie die Welt in allen Facetten durchdekliniert. Immer wieder hebt sie zum Singen an, Momente, in denen das Publikum merklich die Luft anhält. So schaffen Smith und Crasneansckis spannende anderthalb Stunden. Audiovisuell immersiv, emotional und psychedelisch.
Die Arbeit des Soundwalk Collectives widmet sich wechselnden Themen. Dieses Mal wurde mit der TBA21-Akademie zusammengearbeitet. Das ist ein Forschungszentrum, das sich einer Auseinandersetzung mit der Beziehung des Menschen zum Ozean verschrieben hat.
Smith spannt in ihrem Vortrag den Bogen von Radioaktivität, der kreatürlichen Kraft der Erde über und unter dem Meeresspiegel. Sie beschwört die Macht des Erdbebens und den Schrecken von Waffengewalt, bis hin zur Rolle des Künstlers in der Gesellschaft. Sie kollagiert Begriffe, Lyrik und Bibelzitate, zeichnet Wortskizzen und tüncht Gemälde.
Zusammen mit den Künstler:innen setzt Smith Impulse, das aktive Menschsein zu reflektieren und die eigene Rolle in der Natur zu hinterfragen. Es sind die ganz großen Fragen, die hier gestellt werden. Das ist vielleicht ein bisschen viel auf einmal, aber man kann als Zuschauerin auch einfach die Bühnenmomente genießen und die Psychedelik des brechenden Eisklotzes auf sich wirken lassen. Am Ende erhebt sich das Publikum zu stehenden Ovationen für die Künstlerin. „Krass“, hört man Leute beim Hinausgehen andächtig tuscheln, „aber auch wahnsinnig schön“.