Spazieren mit Schildkröte: Die Fotoschau „Nachtwach Berlin“ zeigt surreale Stadtansichten
Nachts ist die Stadt eine andere. Dunkel und Licht verschieben die Wahrnehmungsparameter. Das urbane Getriebe macht Pause von sich selbst. In der Stille tritt oft Übersehenes, treten Seltsamkeiten der Stadtlandschaft hervor, öffnen sich erhabene Räume. Dass sich etwa am Kulturforum eine Betonzacke befindet, die aussieht wie das gleißende Tor zu einem Paralleluniversum, glaubt man erst, wenn man es auf der Fotografie von Ingo van Aaren sieht. Tagsüber noch nie bemerkt, das Ding.
Auch die Aufnahme, in der der Schriftsteller David Wagner vor einer Metallwand in der Ackerstraße steht, die ein alter DDR-Grenzwachturm überragt, erscheint surreal. Schwefelgelb fällt Laternenlicht auf das Straßenpflaster. Und die Wand wirkt in der Dunkelheit so grobkörnig, dass sie sich in einer dunklen Textur aufzulösen scheint. Als könnten der Schriftsteller und die Schildkröte, die er an der Leine spazieren führt, einfach hindurchtreten. Eine Einsamkeitsszene wie gemalt statt fotografiert.
Gut, dass eine Auswahl aus der Serie „Nachtwach Berlin“, die der Fotograf Ingo van Aaren und der notorische Berlin-Spaziergänger David Wagner 2020 in dem Buch „Nachtwach Berlin – Spaziergänge mit Schildkröte“ veröffentlicht haben, nun in einer Ausstellung im Haus am Kleistpark zu sehen sind.
Das große Format bekommt den Bildern, sie atmen mehr Atmosphäre als im Buch. Wenn es auch schade ist, dass Sätze wie „Fußgängertunnel sind so erniedrigend wie Krötentunnel“, die David Wagner als imaginären Dialog zwischen ihm und dem weisen Kriechtier geschrieben hat, es nicht in die sparsame Betextung der Schau geschafft haben. Die ist dafür mitunter auch in Schildkrötenperspektive, sprich auf dem Boden angebracht.
Den gepanzerten Kröten mit mythologischem Ruf widmet der Fotograf ein noch im Entstehen befindliches Großprojekt, von dem „Nachtwach Berlin“ eine Auskopplung ist. Van Aaren porträtiert Leute wie Thea Dorn, Max Raabe oder Svenja Flaßpöhler in Gesellschaft des Viechs. Auch David Wagner hat er dafür angefragt und so einen Geistesverwandten in Sachen urbane Geschichte und Nacht gefunden. An die 30 Mal sind sie nachts unterwegs gewesen und haben prominente Ecken und namenlose Ruinen erkundet.
Selbst die Polizei sei eines Nachts auf sie aufmerksam geworden, erzählt van Aaren. Ganz abgesehen von den Passanten, die ihre Bemühungen, Menschenleere zu inszenieren, immer wieder mit ihrer Neugier erschwert haben. Der Frage, ob die flanierende Kröte echt sei, weicht der Fotograf lieber aus und spricht wolkig von „Tierwohl“ und „Stand-in“.
David Wagner, der gerade einen Roman zuende schreibt, der nächstes Jahr herauskommt, stellt man sie lieber gar nicht erst. Die Pariser Bohémiens des 19. Jahrhunderts, auf die sich van Aaren und Wagner ironisch beziehen, flanierten angeblich mit echten Schildkröten, um ein Zeichen gegen die Rationalisierung des Stadtraums in der Industrialisierung zu setzen.
Flanieren, das ist in der Tat ein Begriff, den man mit Wagner verbindet, dessen Berlin-Geschichten aus mehreren Jahrzehnten jetzt unter dem Titel „Ich geh‘ so gern durch diese Stadt“ in einem Sammelband erschienen sind. Er selber nennt sich allerdings schlicht Fußgänger.
Angesichts der Überstrapaziertheit dieser literarischen Figur eine weise Entscheidung. „Die Konjunktur des Begriffs stammt aus der großen Sehnsucht Berlins, wieder bedeutende Stadt-Erzählungen hervorzubringen“, sagt Wagner. Dabei eigne sich die Stadt besser zum Marschieren, zum Strecke zurücklegen auf Ausfallstraßen, wo man Demut lerne. „Spazieren in Berlin ist auch eine Übung in Selbsterniedrigung“.
Und doch lassen sich in den historischen Sedimenten, die sich in den Traumwelten von „Nachtwach Berlin“ in der Stadtlandschaft mit ihren Einschusslöcherfassaden am Kupfergraben, emblematischen Bauten wie dem Haus der Kulturen der Welt oder dem ICC ablagern, Entdeckungen machen. Und Geschichten finden. Wie die, dass Mies van der Rohe die Neue Nationalgalerie ursprünglich im Auftrag von Bacardi entworfen hat: als Firmensitz auf Kuba.
„Glaubst du, Berlin hat eine?“ fragt der Spaziergänger die Schildkröte im Buch. „Eine Zukunft?“, antwortet die Schildkröte: „Bisher ist immer eine gekommen.“