Aufbruch in die Unsicherheit

Finanziell gesehen hat Jon Stainsby das Covid-Pandemiejahr gut überstanden. Anders als viele andere Freiberufler in Londons Musikszene erhielt der Sänger Unterstützung durch das Hilfsprogramm der Regierung.

Vergangenen Sommer und Herbst konnte der Bariton mit der Branchen-üblichen Portfolio-Karriere sogar einige Konzerte geben und zum Zwischentöne-Festival im schweizerischen Engelberg reisen.

Im Mai soll es wieder losgehen

Von Ende Dezember bis Anfang April hat der 41-Jährige nicht live gesungen, nur zu Ostern gab es einige Oratorien-Termine. „Mein Kalender ist beinahe leergefegt“, sagt Stainsby.

Wenn die britische Regierung tatsächlich bald den nächsten Schritt aus dem seit Jahresbeginn geltenden harten Lockdown geht, könnte der Sänger Ende Mai erstmals wieder auftreten. „Das glaube ich erst, wenn es soweit ist“, gibt sich Stainsby vorsichtig. „Ich fühle mich sehr unsicher.“

Das Schicksal teilen Hunderttausende Theatermacher, Musiker und Künstler, denen Covid-19 die Existenzgrundlage entzogen hat. Ein Hilfspaket der Regierung von Premierminister Boris Johnson über umgerechnet 1,8 Milliarden Euro hat vielen Institutionen, die vor dem Bankrott standen, das Überleben ermöglicht.

Ob Theater, Opernhäuser und Konzertsäle, die viel weniger vom Staat subventioniert werden als in Deutschland, aber wirklich bald wieder ihre Tore öffnen?

Noch lohnt sich ein Kultur-Besuch auf der Insel kaum: Der Einreise mit Covid-Test folgt eine mindestens fünftägige Quarantäne mit erneutem Test. Zu besichtigen gibt es anschließend wenig, außer Gebäuden von außen und Freiluft-Attraktionen wie dem Yorkshire Sculpture Park nahe Wakefield.

In London lädt die private Gagosian-Galerie immerhin zur Ausstellung „Internal Objects“ mit Werken von Rachel Whiteread ein, der ersten Gewinnerin des Prestige-trächtigen Turner-Preises (1990) und Schöpferin des Wiener Holocaust-Denkmals. Anmeldungen für 20-minütige Besichtigungen erfolgen über die Website, Gesichtsmaske und soziale Distanzierung sind Pflicht.

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Erst die für 17. Mai geplante nächste Revision der Lockdown-Vorschriften wird die Öffnung der Museen mit sich bringen, erlaubt sind dann endlich auch wieder Musik und Theater live, natürlich nur mit Maske und Abstand.

Stolz laden gewichtige Institutionen wie das Victoria & Albert-Museum und die Royal Academy für Mitte Mai zur Vorbesichtigung ihrer neuen Ausstellungen. In Piccadilly präsentiert die Royal Academy neue Werke des auch im Lockdown unermüdlichen 83-jährigen David Hockney; das V&A spürt dem Einfluss nach, den Lewis Carrolls Erzählung „Alice im Wunderland“ in den 156 Jahren seit ihrer Veröffentlichung entfaltet hat.

Die Veranstalter klingen teils noch sehr zurückhaltend

Vom ersten Tag der Öffnung an sollen in der Wigmore Hall wieder Konzerte stattfinden. Direktor John Gilhooly will Ende Mai und Anfang Juni die Pianisten Mitsuko Uchida und András Schiff ebenso junge Jazz-Musikerinnen und indische Sarod-Virtuosen auftreten lassen. Am 20. Mai beginnt das Glyndebourne-Musikfestival sein Programm mit Leoš Janáčeks Oper „Katja Kabanowa“.

Aufbruchstimmung überall? Nicht ganz. Die 126. Saison der weltberühmten BBC-Promenadekonzerte in Londons Albert Hall soll am 30. Juli beginnen und nur unwesentlich verkürzt sechs Wochen dauern. Weitere Einzelheiten, heißt es bei den Verantwortlichen, werde man „beizeiten bekanntgeben“.

Ähnlich verhalten klingt es auf den Websites kleinerer Häuser wie dem Park Theatre nahe dem Nord-Londoner Bahnhof Finsbury Park oder das bekannte Pub-Theater 503 im südlichen Stadtteil Battersea mit dem Hinweis, man werde neue Produktionen auflegen, „wenn die Beschränkungen gelockert werden“ – als stünde da nicht längst ein realistisches Datum am Horizont. Fast scheint es, als trauten die gebeutelten Theatermacher und Konzertveranstalter dem neuen Covid-Frieden noch nicht so recht. Das Pop-Schlammevent Glastonbury wurde schon im Januar abgesagt. Man sei „sehr zuversichtlich“, im Sommer 2022 wieder an den Start zu gehen.

Westminster Abbey hat allen freiberuflichen Sängern gekündigt

Wenn Suzanne Wilson das nur von sich auch sagen könnte. Mit dem Leben als freiberufliche Sängerin hatte die gebürtige Australierin ihren Berufstraum verwirklicht. Daheim in Adelaide war ihr schlanker, knabenhafter Sopran nicht gefragt, die vielen anglikanischen Kirchen in der Weltstadt London griffen mit Begeisterung auf sie zurück.

„Ich gehörte nicht zur absoluten Spitze, aber zur Gruppe darunter“, lautet Wilsons Selbsteinschätzung. An der weltberühmten Westminster Abbey, gleich gegenüber vom Parlament, war sie die am längsten dienende Sopranistin.

Als Mitte März vergangenen Jahres die Pandemie voranschritt und ein Lockdown absehbar wurde, „quälte mich die Vorstellung, ich könnte auf Monate, vielleicht Jahre hinaus meine Eltern, beide über 80, nicht mehr sehen“. Wilson buchte einen Flug in ihre australische Heimat und landete zwei Tage später in Adelaide.

London hat sie seither nicht wiedergesehen. Die Abbey, deren Finanzen zu etwa 90 Prozent vom Tourismus abhängen, hat allen freiberuflichen Sängern den Laufpass gegeben. Wilson hat ihre Londoner Wohnung verkauft, lebt jetzt bei ihrem Vater in Adelaide und verdient ein wenig Geld als Putzfrau und Sekretärin.

Silberstreif: Kleine Bühnen konnten mit Abstand spielen

Die Pandemie habe ihre Karriere als Profi-Sängerin beendet, glaubt die 54-Jährige: „Hier in Adelaide gibt es für mich keine Verwendung. Und wenn das Londoner Musikleben wieder erwacht, bekommen jüngere Stimmen den Vorzug.“

Wenigstens nur auf Eis liegt hingegen Anna Townleys angestrebte Karriere als Inspizientin am Theater. Die Abschlussarbeit der Londonerin, 22, für den Englisch-Bachelor, das Drama „H5“, wurde fürs berühmte Edinburgh Festival ausgewählt, die ersten Schritte in der Theaterwelt verliefen vielversprechend. Dann kam die Pandemie. Monatelang geschah gar nichts.

Dann erlebte Townley, was sie als „Silberstreif am Horizont“ für ihre Branche beschreibt: Dramen mit wenig Personen können auch auf kleinen Bühnen mit dem nötigen Abstand aufgeführt und – vor allem – gefilmt werden.

An der Aufführung von „Sunnymead Court“, einer lesbischen Romanze zu Covid-Zeiten, nahmen im Herbst nicht nur live ein paar Hundert Londoner Anteil, sondern per Stream Tausende rund um die Welt. „Inzwischen werden in Job-Anzeigen zunehmend elementare Film-Kenntnisse verlangt“, berichtet Townley.

Gerade hat sie einer Freundin beim Filmen der Performance einer trans Künstlerin geholfen. Demnächst ist sie an einer Wohltätigkeitsaktion via Zoom beteiligt, bei der „Ernst sein ist alles“ von Oscar Wilde (1854-1900) aufgeführt werden soll. Und für diesen Herbst ist nun endlich die nächste Kurzzeit-Beschäftigung als Inspizientin geplant, nämlich eine Produktion am bekannten Londoner PubTheater 503, wo jährlich Dutzende von Uraufführungen über die Bühnen gehen und sich weitere wertvolle Kontakte knüpfen lassen.

Townley hat ein Jahr lang Sozialhilfe bezogen, längst nicht genug für die prekäre Existenz. An ihrer Traumkarriere im Theater kann sie nur basteln, weil die Eltern gratis Kost und Logis bieten. Wie sie die Zukunft sieht? „Optimistisch“, sagt die junge Frau knapp.