Beste Werbung für das Kino
Der Regisseur Steve Soderbergh hat in seiner Karriere bereits Erfahrungen mit Pandemiefilmen gemacht. Sein „Contagion“ von 2011 ist starbesetztes Ensemblekino über den Ausbruch eines tödlichen Virus, der auf einem Markt in China seinen Anfang nimmt. Sonntagnacht inszenierte Soderbergh im Art-déco-Bahnhof Union Station in Downtown Los Angeles zusammen mit Stacey Sher und Jesse Collins seinen zweiten Pandemiethriller.
Die 93. Oscar-Verleihung, die aufgrund der Coronakrise in den April geschoben worden war, erhielt den offiziellen Status einer Filmproduktion, was den Vorteil hatte, dass die 170 Nominierten vor Ort – einem strengen medizinischen Regime unterworfen – ihre Preise ohne Maske entgegennehmen durften.
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Weniger bekannt war der Regisseur bisher allerdings für erzählerische Finten. Soderberghs Kino ist experimentierfreudig, aber gradlinig, ohne Schnörkel. Sonntagnacht leistete er sich nun auf der Zielgraden der Oscar-Zeremonie eine Wendung, die eines M. Night Shyamalan würdig gewesen wäre.
Als sich die Gäste innerlich schon darauf einstellten, dass die etwas anämische dreistündige Veranstaltung im spärlich gefüllten Saal auf ihren emotionalen Höhepunkt zusteuerte, zauberte Vorjahres-Gewinner Joaquin Phoenix den Namen Anthony Hopkins aus dem Umschlag hervor. Eine weitere Verwechslung, wie schon „Waterhousegate“ 2017 zwischen „La La Land“ und „Moonlight“?
Chadwick Boseman unterliegt Anthony Hopkins
Es waren sich doch alle einig, dass der vergangenen August verstorbene Chadwick Boseman posthum ausgezeichnet werden würde. Warum sonst sollte Soderbergh den Preis für den besten männlichen Hauptdarsteller, entgegen der traditionellen Oscar-Reihenfolge, bis zum großen Finale aufheben?
Danach ging alles ganz schnell. Kaum war der Name verlesen – Hopkins hatte es nicht nach Los Angeles geschafft –, rollten schon die Schlusscredits; die Gäste und das Fernsehpublikum wurden freundlich aber bestimmt hinaus komplimentiert. So antiklimaktisch ging die Veranstaltung zu Ende, die über weite Strecken routiniert wie die Fließbandproduktionen aus der klassischen Hollywood-Ära (als die ersten Züge in die 1939 erbaute Union Station einrollten) heruntergespult worden war.
Der zweite Oscar für eine Regisseurin
Dass es eine historische Nacht werden sollte, hatte sich früh angedeutet, lange bevor die chinesische Regisseurin Chloé Zhao den Preis für das amerikanische Gesellschaftsporträt „Nomadland“ in Empfang nahm – als zweite Frau in der 93-jährigen Geschichte der Oscars.
Zuvor war bereits mit der Schauspielerin („The Crown“) und Regisseurin Emerald Fennell seit über zehn Jahren erstmals wieder eine Drehbuchautorin ausgezeichnet worden, für die pastellfarbene MeToo-Rachefantasie „Promising Young Woman“. Hatte der Brite Daniel Kaluuya für seine Darstellung des 1969 getöteten Black-Panther-Gründers Fred Hampton in „Judas and the Black Messiah“ die Trophäe erhalten.
Und die 73-jährige Yoon Yeo-jeong für „Minari – Wo wir Wurzeln schlagen“ als erste asiatische Schauspielerin einen Oscar gewonnen. In ihrer Dankesrede erwies sie sich als genauso schelmisch wie in der Rolle einer koreanischen Großmutter inmitten der Einöde von Arkansas – und rührte damit den Produzenten Brad Pitt zu Tränen.
Die Zeit der Lippenbekenntnisse ist vorbei
Dass die Academy im allerletzten Moment aber dem über alle Maßen von Kolleg:innen und Fans verehrten Boseman seine Chance auf einen Oscar verwehrte, hinterlässt Unmut in den sozialen Netzwerken. Doch es ist anders als in den Vorjahren, als die eine afroamerikanische Nebendarstellerin oder eben wieder Spike Lee die Bürde allein schultern mussten.
Vor sechs Jahren wurden in der Branche die OscarsSoWhite-Proteste laut, 2018 formierten sich weibliche Filmschaffende in Folge der Weinstein-Enthüllungen zur TimesUp-Bewegung. Die Academy unterzog sich danach einer radikalen Verjüngungskur, sie nahm mehr Frauen, mehr internationale Filmschaffende auf. Wer das für bloße Lippenbekenntnisse hielt, sieht sich 2021 zum zweiten Mal in Folge eines Besseren belehrt. Hollywood meint es ernst.
Vielleicht ist – und bei Licht betrachtet erscheint diese These gar nicht mal so steil – der Oscar für Anthony Hopkins in Florian Zellers Demenzdrama „The Father“ (ebenfalls für das beste adaptierte Drehbuch ausgezeichnet) sogar der beste Beleg für die neue Diversität in Hollywood. Aktionismus können sich die Schneeflocken in der liberalen Filmindustrie gewiss nicht vorwerfen lassen.
Der 83-jährige Hopkins zeigt, dass Hollywood noch kein no country for old men ist. Die Academy weiß den kulturellen Wandel ebenso zu würdigen wie klassische Schauspielkunst. Für die Fans von Chadwick Boseman mag das ein schwacher Trost sein. Für das Kino ist es eine gute Nachricht.
Die Studiofilme gewinnen gegen Netflix
Eine gute Nachricht waren die Oscars auch für den Teil der Filmbranche, der das Geschäftsmodell Kino noch nicht aufgegeben hat. Mit drei Preisen für „Nomadland“ – bester Film, beste Regie und beste weibliche Hauptrolle für Ko-Produzentin Frances McDormand (ihre Oscars drei und vier) – war eine Studioproduktion der Gewinner des Abends.
Auch „Minari“, „Promising Young Woman“ und „The Father“ gehören zu den Siegerfilmen der Studios. Netflix erlebt nach „The Irishman“ erneut eine Enttäuschung; das luxuriös ausstaffierte Biopic „Mank“ über die Entstehungsgeschichte von „Citizen Kane“ war in diesem Aufbruchsjahr dann wohl doch der Hollywood-Nostalgie zu viel.
Noch lange in den Ohren bleiben dürfte der Branche das Wolfsgeheul von Frances McDormand. „Bitte schaut diesen Film auf der größtmöglichen Leinwand“, forderte sie in ihrer Dankesrede auf. „Und eines Tages, sehr bald, nehmt alle, die ihr kennt, mit in ein Kino, Schulter an Schulter in der Dunkelheit, und seht euch jeden Film an, der heute Nacht gewonnen hat.“
Kino als Kunstform retten
Die Oscars finden in einem für die Filmbranche kritischen Moment statt. Disney, die „Nomadland“ nach der Akquise des Boutique-Studios Searchlight vertreiben, nutzen ihre Vormachtstellung mit der Streamingplattform Disney+ gerade nachdrücklich, um die Kinos herauszufordern.
Doch selbst ein Film wie „Nomadland“ würde trotz seiner nunmehr 227 Auszeichnungen ein trauriges Dasein auf einer digitalen Plattform fristen, Zhaos sentimentale Ode an ein zwischen Armut und Obdachlosigkeit verschwindendes Amerika kann ohne Leinwand, die „größtmögliche Leinwand“, ihre Wirkung kaum entfalten. Vielleicht zeigen die Oscars für das Filmjuwel „Nomadland“ dem Unterhaltungskonzern, dass man das Kino auch als Kunstform – und eben nicht nur als Ausspielstätte für Marvel-Filme – noch nicht aufgeben darf.
Dass eine chinesische Regisseurin einen der schönsten, aber auch ehrlichsten Filme über Amerika drehen kann, wirkt wie ein tröstlicher Nachgedanke zu vier Jahren unter Donald Trump. Es führt aber auch erneut vor, was für eine universale Sprache das Kino – bei aller Spezifik – sein kann. McDormand und Zhao nahmen ihre Preise an der Seite echter amerikanischer „Nomad:innen“ an. Solche Geschichten schreibt das Kino.