Andreas Toba ist reif für mehr
Wie guter Wein zu sein, „der mit der Zeit immer besser wird“ – dieser sehr bodenständigen Hoffnung hatte Andreas Toba am Donnerstag in Basel Ausdruck gegeben. Kurz zuvor war der 30 Jahre alte Hannoveraner in der Qualifikation der Kunstturn-Europameisterschaften in der Schweiz zum ersten Mal in seiner Karriere in das Gerätefinale eines internationalen Titelkampfes eingezogen. Als Bester am Reck sogar. „Ich wollte einfach nur meine Übung durchturnen“, sagte der deutsche Mehrkampfmeister damals gewohnt bescheiden. Dass er nach der Entscheidung am Sonntag mit einer Silbermedaille dastehen würde, an diesen „unfassbaren Traum“ hätte er zu diesem Zeitpunkt gar nicht zu denken gewagt.
Mit 13,833 Punkten musste sich der Niedersachse nur dem Russen David Beljawski (14,066) geschlagen geben. Dabei wäre sogar noch mehr drin gewesen. Denn früh in seiner Übung hatte Toba beim sogenannten Adler, einem Schub des Körpers durch die Arme in den Handstand, samt ganzer Längsachsendrehung Probleme.
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„Ich wusste, dass alle acht Turner im Finale gewinnen konnten“, erzählte er später. „Deshalb musste ich auf Angriff gehen.“ Der Fehler allerdings kostete laut Bundestrainer Valeri Belenki einen halben Punkt Abzug. Danach durfte nichts mehr passieren, um den möglichen Sprung aufs Podest nicht zu gefährden. Der Plan sollte aufgehen.
Mit großer Anspannung verfolgte Toba, der als Dritter in den Durchgang am anspruchsvollsten Gerät gestartete war, den Rest der Vorträge. Bei dieser etwas anderen Rückkehr der kontinentalen Elite auf die Wettkampfbühne durfte zwar pandemiebedingt kein Publikum in die St. Jakobshalle von Basel.
Die Gastgeber hinderte dies jedoch nicht daran, die Veranstaltung als riesige Show aufzuziehen – mit rotem Licht und hellen Spots, die nicht nur das gerade im Vordergrund stehende Gerät beleuchteten, sondern auch die Fahnen der Herkunftsländer der Medaillengewinner. Die „Kiss&Cry“-Sitzecken standen auf einer Plattform vor der Anzeigetafel über dem Innenraum. Von hier aus hatten die Führenden stets beste Aussichten darauf, was die Konkurrenz noch zu leisten in der Lage war.
Toba erlebte „das große Zittern“
„Das große Zittern“, nannte Toba die Momente im Sessel. Eine knappe Stunde zuvor hatte bereits sein Teamkollege Lukas Dauser an derselben Stelle mit klopfendem Herzen so lange gewartet, bis seine Bronzemedaille am Barren, gemeinsam mit dem Schweizer Christian Baumann (beide 15,10), feststand. Die beiden Kumpels, die einzigen Männer des Deutschen Turner-Bundes (DTB), die zum Abschluss der EM am Wochenende noch einmal vor die Kampfrichter treten durften, sorgten für Glanz in der bis dahin matten Bilanz. Bei den Frauen hatte die Stuttgarterin Elisabeth Seitz durch einen Sturz beim Jägersalto am Stufenbarren als Siebte ebenso einen Podestplatz verpasst wie ihre Klubkollegin Kim Bui als Sechste im Bodenfinale.
Die leer Ausgegangenen betonten immer wieder, wie wichtig dennoch diese Zwischenstation auf dem Weg zu den Olympischen Spielen in Tokio war. Unterstrichen wurden diese Aussagen dadurch, dass es auch bei der internationalen Konkurrenz am Abschlusswochenende zahlreiche Fehler gab. Selbst wenn der Körper noch genug Kraft hat, macht die nicht mehr gewohnte Dauerbelastung des Kopfes selbst routinierten Athleten nach eineinhalb Jahren coronabedingter Zwangspause zu schaffen. Im Training oder bei internen Ausscheidungen lässt sich das nicht üben.
Toba überzeugte vor allem als Allrounder
Lukas Dauser verspricht sich von seinem Erfolg, der zweiten EM-Medaille nach Silber 2017 in Cluj, „den richtigen Schwung“ für die Vorbereitung auf die anstehenden Olympiaqualifikationen in München und Dortmund. Andreas Toba rühmte vor allem, dass es „ein schönes Gefühl ist, nicht mehr alles nur ein bisschen, sondern auch mal etwas sehr gut zu können“.
Bislang war der Bewegungskünstler vor allem durch seine Verlässlichkeit als guter Allrounder aufgefallen. Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio eroberte er zudem als tragischer Held die Herzen. In der Qualifikation hatte er sich damals eine schwere Knieverletzung am Boden zugezogen und schwang sich danach dennoch über die Pauschen, um seine Riege im Kampf um das Teamfinale zu unterstützen. Trotz all der Popularität, die er sich damit verdiente, betonte Toba immer wieder, dass es ihm lieber gewesen wäre, einfach einen guten Wettkampf durchzuziehen, statt über rote Teppiche zu humpeln und Auszeichnungen für sein Heldentum entgegenzunehmen.
Nun hat der fleißige Arbeiter bewiesen, dass er noch frisch genug ist, bis dahin unerreichte Höhen zu erklimmen. „Für mich ist diese Medaille eine Genugtuung für das ganze Training in den vergangenen Jahren“, sagte Toba zum Abschluss. Und was die Reife angeht: „Im Kopf fühle ich mich noch immer wie mit 12 oder 15.“