Erst in Venedig, nun im Kino „Die Theorie von Allem“: Halluzinieren in der Höhenluft
Komisch: So viele Menschen pfeifen im verschwörungsseligen 21. Jahrhundert auf den aufklärerischen Duktus der Wissenschaft. Aber in der Popkultur steht sie hoch im Kurs. Multiversen, Parallelwelten, Zeitreisen, Quantentheorie – ohne sie keine Marvelfilme, Science-Fiction-Serien oder Oscar-Abräumer wie „Everything Everywhere All at Once“ und den Kinokassenhit „Oppenheimer“.
Auch Timm Kröger, dem Regisseur von „Die Theorie von Allem“, gelten Physiker als charismatische Weltendeuter oder möchten zumindest welche werden. So wie Johannes Leinert, Doktorand der theoretischen Physik, der sich 1962 zu einem Kongress nach Graubünden aufmacht. Als Hiwi seines Doktorvaters, Professor Strathen, der der „esoterischen Mathematik“ seines Schülers mehr als skeptisch gegenübersteht.
Die Schweizer Bergwelt im Winter – das ist ein Setting, das sich wie kein zweites in theatralische, also kontrastreiche Schwarzweißbilder bannen lässt. Männer in schwarzen Mänteln auf gleißenden Schneehängen. Donnernde Lawinen. Wolkenschlieren, die sich über dem Gebirgsmassiv sammeln. Die raue Textur der Felsen und das Glänzen der Stollenwände, über die der Taschenlampenschein huscht. Wie Kameramann Roland Stuprich diese Landschaft inszeniert, das ist ein Augenschmaus.
Trotz solcher Bergfilm-Zitate, ein Bergdrama ist „Die Theorie von Allem“ nicht. Die Gipfel sind Kulisse, kein heimlicher Protagonist, auch wenn die physikalischen Eigenschaften eines Stollens mit Uranerz sich als Zentrum merkwürdiger Phänomene erweisen. Kaum, dass Leinert (Jan Bülow) und Strathen (Hanns Zischler) im Kongresshotel Esplanade eingetroffen sind, wird bekannt, dass der Hauptredner, ein iranischer Physiker mit angeblicher bahnbrechender Theorie, sich verspätet. Da heißt es Abwarten und Ski fahren gehen, was zusehends aus dem Ruder läuft.
Leichen werden aufgefunden und verschwinden. Kauzige Kommissare ermitteln. Strathens Physiker-Kontrahent Blumberg (Gottfried Breitfuß) altert auf seltsame Weise. Im Stollen donnern Eruptionen. Und die Barpianistin (Olivia Ross), in die sich der Doktorand verliebt, kennt seine intimsten Kindheitserlebnisse.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.
Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.
Timm Krögers Mysterythriller im Film Noir-Look ist zum Bersten voll mit Referenzen an die Filmgeschichte. Ästhetisch sowieso, aber auch inhaltlich. Die Atom-Angst der 50er Jahre wabert genauso durch die „Theorie von Allem“ wie die Traumata des Krieges und der NS-Zeit.
Das Motiv des „Mad Scientist“ klingt ebenso an, wie Untoten-Mythen und klassischer Hitchcock-Suspense inklusive eines altmodisch-pathetischen Hollywood-Scores (Diego Ramos Rodríguez), in dem die Kontrabässe grummeln und die Violinen klirren, wenn die Spannung steigt. Nur – das ist der Webfehler im Bergpanorama – dass sie das kaum jemals tut.
Todschick anzusehende Bilder
„Die Theorie von Allem“ ist wie ein uneingelöstes Versprechen. Todschick anzusehen, randvoll gefüllt mit verheißungsvollen Referenzen, aber viel zu gemächlich erzählt. Tausend Themen anreißend, aber keins schlüssig ausführend.
Dass man die Weltformel nicht erfährt, die die Parallelwelten im Innersten zusammenhält, muss im Arthouse-Film kein Schaden sein. Wohlfeile Antworten gibt es im Mainstreamkino genug. Trotzdem braucht auch ein Pastiche einen substanziellen Kern, der der Geschichte von Kröger und Drehbuchautor Roderick Wahrich fehlt.
Im Wettbewerb der Filmfestspiele Venedig
Dass der Retrothriller es als einziger Beitrag des deutschen Kinos in den Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig geschafft hat, ist trotzdem eine Auszeichnung. Kröger, der sein Handwerk in Dänemark am European Film College und an der Filmuniversität Baden-Württemberg lernte, hat in Venedig offenbar einen Stein im Brett: 2014 war sein Spielfilmdebüt mit dem hinreißenden Titel „Zerrumpelt Herz“ dort in der Woche der Kritik zu sehen und wurde mit Lob bedacht.
Als Rätselfilm voller spätromantischer Musik und Naturmystik. Einer seiner Helden, der Musiklehrer Paul Leinert, weist nicht von ungefähr eine direkte namentlich Verbindung zum Physik-Doktoranden Johannes Leinert auf. Film als selbstreferenzielle Gespenstererzählung, Traumspiel und Hommage an dessen Geschichte zu begreifen, ist beim 1985 geborenen Kröger Programm.
Was die Besetzung seiner mit Lust holzschnitthaft gezeichneten Charaktere angeht, die macht Spaß. Hanns Zischler legt als Vertreter einer rein rationalen, verifizierbaren Wissenschaft – Blumberg beschimpft ihn einmal als „Heisenbergs Rechenschieber“ – eine sagenhaft steinerne Miene an den Tag. Jan Bülow gibt mit einem Dauerfragezeichen im Jungengesicht seinen visionären Antipoden, der die Physik auch als Metaphysik begreift.
Zwei Gelehrten-Typologien, deren Clinch ebenso formelhaft bleibt, wie Leinerts Liebe zur Jazzpianistin, deren multiple Existenz in finsterste Kapitel deutscher Geschichte weist. Als hingetupfte Fährte in einem zerfransenden Erzähllabyrinth, in dem es trotz der klaren Gebirgsluft Graubündens an Sauerstoff fehlt.