Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (84): Vitali fühlt keinen Hass, nur Ekel

15. 11. 2022

Eine ganze Woche in Berlin, ein wahrer Luxus! Mein Messenger, Whatsapp und Telegram platzen – alle fünf Minuten neue Nachrichten, viele meiner Freunde sind gerade in der Stadt und natürlich müssen wir uns unbedingt treffen. Aber mir geht es nicht so gut, mein Körper signalisiert, er brauche eine Pause – und gibt mir einen perfekten Grund, meine Gäste Hause zu empfangen.

Nikolay Karabinovych, mit dem wir oft zusammengearbeitet haben, machte sich monatelang Sorgen um seinen Vater, der auf keinen Fall Odessa verlassen wollte. Endlich ist es Nikolay gelungen, ihn zu überzeugen. Jetzt sind die beiden für zwei Tage in Berlin und kommen auf einen Kaffee vorbei. Vor vier Jahren habe ich für Nikolays Kunstprojekt einen Song über seinen Urgroßvater geschrieben und spüre eine besondere Verbindung zu dieser Familie.

Nikolays Vater wollte Odessa auf keinen Fall Odessa verlassen

Nikolays Vater ist ein echter Odessa-Fan, er schenkt mir sechs Bücher über seine Heimatstadt (sowie zwei Postkarten-Sets) und möchte unbedingt noch Videos auf seinem Handy zeigen. Mit Sperrholz vernagelte Schaufenster auf der menschenleeren Deribasywska, der beliebten Promenade im Zentrum, eine beeindruckende Aussicht über die ganze Stadt, gefilmt vom Balkon seiner Wohnung im zwölften Stock, mit schrillem Sirenensound im Hintergrund …

Meinen zweiten Kaffee trinke ich mit Vitali Bardetski, der am vergangenen Sonntag seinen Film „Mustache Funk“ über die Entstehung der Folkfunkszene in der Sowjetukraine der Siebziger beim Festival im polnischen Torun präsentiert hat. Vor seiner Rückkehr nach Kiew besucht er für zwei Tage die deutsche Hauptstadt, hier hat er viele Freunde und Bekannte. Seine ersten Reisen nach Deutschland in den frühen Neunzigern wurden im Buch „Ich, Pobeda und Berlin“ von Andrij „Kusma“ Kusmenko für die Ewigkeit festgehalten.

Nicht unterzukriegen: Ukrainische Breakdancer auf einem Streetart-Festival in Odessa Ende August.
Nicht unterzukriegen: Ukrainische Breakdancer auf einem Streetart-Festival in Odessa Ende August.
© IMAGO/ZUMA Wire / IMAGO/Viacheslav Onyshchenko

Kusma war der Bandleader der legendären ukrainischen Popgruppe Skrjabin, der sich 2006 auch als Autor versuchte. In „Ich, Pobeda und Berlin“ beschrieb er seinen abenteuerlichen Ausflug nach Berlin in einem uralten, halb-kaputten sowjetischen Auto der Marke Pobeda. Sein Kumpel und späterer Presseagent von Skrjabin, Bardetski, war damals dabei, hat alles miterlebt und ist dadurch zu einer der Hauptfiguren des Buches geworden, das in der Ukraine zum Bestseller wurde. Die Premiere der Verfilmung vom Kusmenkos Buch hätte im März dieses Jahres stattfinden sollen, aber dazu ist aus offensichtlichen Gründen leider nicht gekommen.

Wir reden über den Krieg und auch über die Musik – Bardetskis Familie hat die Entscheidung getroffen, in der Ukraine zu bleiben. Die ersten Monate nach dem Beginn der Eskalation verbrachten sie im Westen des Landes, wohin sie gezogen waren, nachdem eine russische Rakete unweit von ihrem Haus in Kiew landete. Als es ruhiger wurde, kehrten die Bardetskis zurück. Ihre Gram Bar, einer meiner Lieblingsorte in der ukrainischen Hauptstadt, wo ich im März 2020 bei der Vorpremiere von „Mustache Funk“ auflegen durfte, machte wieder auf.

„In den Monaten nach Februar konnte ich keine Musik hören, ich habe einfach nichts mehr gespürt“, sagt Vitali, den ich als einen Plattensammler, Musikenthusiasten und DJ kenne. Ich weiß genau, wie schmerzhaft es sich für ihn anfühlen musste, denn mir erging es sehr ähnlich. „Empfindest du Hass gegenüber den russen?“, fragte man ihn in Polen nach der Filmvorführung. „Als Hass würde ich es nicht bezeichnen, nein“, antwortete Bardetski. „Ich fühle keinen Hass, nur Ekel.“

Vitali muss weiter, wir verabschieden uns und hoffen auf ein baldiges Wiedersehen. Anfang Dezember bin ich nach Charkiw eingeladen, und auf dem Weg in die Heimatstadt würde ich natürlich gern Kiew besuchen. Wenn es klappt, dann ist ein Gram-Besuch für mich Pflicht.

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