Die Prinzessin und die Runzelpflaume
Aber sicher ist „Aline – The Voice of Love“ ein Biopic über den kanadischen Popstar Céline Dion. Auch wenn vorne dran steht, der Film sei nur von ihrem Leben „inspiriert“. Von der Herkunft als Kind Nummer 14 einer musikbegeisterten Arbeiterfamilie aus der frankophonen Provinz Québec über Karrierestationen wie den Gewinn des Grand Prix d’Eurovision 1988 bis zur eigenen Show in Las Vegas und der Liebe zum Manager und späterem Ehemann läuft bei Aline Dieu alles so wie beim Original.
„Du hast das wirklich selber gesungen, Céline?“, fragt Manager Guy-Claude Kamar (Sylvain Marcel) das kindliche Stimmwunder. „Aline“, korrigiert Sylvette Dieu (Danielle Fichaud), die ehrgeizige Mutter der Nachwuchssängerin, die ihm die Demokassette geschickt hat. Bei diesem augenzwinkernden Gag zu Beginn der Dramödie bleibt es nicht. Valérie Lemerciers beim Filmfestival von Cannes uraufgeführtes Werk ist eine Seifenoper aus den modisch schaurigen Achtzigern und Neunzigern, die weder Weichzeichner, Sentiment noch Situationskomik scheut.
Die Mutter wacht über ihre talentierte Tochter
Einen surrealen Touch setzt die Schauspielerin und Regisseurin Valérie Lemercier, die auch das Drehbuch geschrieben hat, gleich mit der Besetzung der Hauptrolle. Mehr als 40 Künstlerinnenjahre vom Staub ärmlicher Verhältnisse bis zu den Sternen des Oscar-Gewinns mit dem „Titanic“-Tränenzieher „My Heart Will Go On“ 1998 deckt Lemercier mit einer Person ab: sich selbst.
Die 57 Jahre alte Französin singt – mit abgebundenen Brüsten, in Draufsicht zwischen vergrößerten Requisiten gefilmt – als fünfjährige Aline bei der Hochzeit eines Bruders. Und sie spielt die zwölfjährige Aline, die sich unsterblich in den fast 40 Jahre alten Guy-Claude verliebt. Das verstärkt die eh schon vorhandene Situationskomik. Besonders, wenn „Maman“ Sylvette den Manager abkanzelt: „Meine Prinzessin hat einen Prinzen verdient, keine Runzelpflaume, die doppelt so alt und zweimal geschieden ist.“
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Genau wie Céline Dion will auch Aline Dieu privat partout die Runzelpflaume, die sie mit sanfter, aber zielstrebiger und geschäftstüchtiger Hand zum Superstar aufbaut. Dem echten Ehepaar Céline Dion und René Angélil hat das ebenso viel Kritik und Häme eingebracht wie ihren Leinwand-Wiedergängern, die sich erst nach einigen Jahren des gemeinsamen Tourens mit der wachsamen Mutter in die Arme fallen dürfen.
Den aus heutiger Sicht fragwürdigen Part des erfahrenen Mannes, der ein emotional von ihm abhängiges Mädchen in Pygmalion-Manier zur Künstlerin formt, problematisiert Lemercier nicht. Ihr Guy-Claude erscheint als idealer Gefährte des aufstrebenden Talents. Ein weichherziger, moppeliger Vater-Typ, kein schmieriger Despot. Da wirkt sogar Danielle Fichau als temperamentvolle Helikopter-Mutter herrischer.
„Aline“ ist keine der üblichen Abrechnung mit der Unterhaltungsindustrie und auch kein ironisches Starporträt, sondern eine Hommage in Gestalt einer campen Kitschbombe. Herz ist Trumpf, der Humor das Beiwerk. Trotz Drehbuchgags wie der Szene, in der sich die Sängerin in ihrer Marmor-Villa verirrt.
Der in Zeitlupe zelebrierten Verwandlung des Entleins mit schiefen Zähnen in einen lockigen Schwan. Oder Lachersätzen wie: „Wenn der alte Ziegenbock mal irgendwann über den großen Zaun springt, muss sein Ziegenmädchen fortführen, was sie zusammen aufgebaut haben.“ Lemercier erzählt zuerst eine Liebesgeschichte und dann ein Künstlerinnendrama, das Krisen wie Erschöpfungszustände, Stimmverlust und die nur mittels aufreibender Hormontherapie zu lösende Kinderlosigkeit kennt.
[In acht Berliner Kinos, auch OmU]
Trotzdem spielen neben der durch Kostüme und Schauplätze geprägten Retro-Ästhetik auch Alines zuerst noch Französisch gesungenen Auftritte und das toughe Backstage-Leben des Weltstars eine Rolle. „Dieser Beruf ist gefährlich“, stellt Aline fest, „je mehr man gibt, desto mehr wollen alle“. Powerballaden wie „All By Myself“ singt Valérie Lemercier nicht selbst, während sie theatralisch mit den Armen rudert, sondern Victoria Sio.
Das macht sie sehr gut. Schließt man die Augen, meint man Pathos-Königin Dion herself schmettern zu hören. Die jedoch war klug genug, sich aus dem Filmprojekt herausgehalten. Sie habe laut Lemercier weder das Drehbuch vorab gelesen, noch den Film bisher gesehen. Wie sich das gehört für eine unerreichbare Popdiva. Einige aus der vielköpfigen Geschwisterschar jedoch fühlen sich im fiktionalisierten „Aline“ wenig treffen wiedergegeben.