Die Lust am Orientierungsverlust

Ungläubig beäugt sich das Publikum über den Mund-Nasen-Schutz hinweg. Zu unwirklich erscheint die Szenerie im beengten Rund des Hebbel-Theaters an diesem Abend noch. Nahezu jeder Platz ist besetzt. Ausverkauft. Unwissentlich werden The Notwist zu Musiktherapeuten gegen die sozialphobische Hypersensibilität der vergangenen Monate.

Der Auftritt der Weilheimer Band ist einer der Höhepunkte des Festivals „Bildet Nischen!“, das in diesen Tagen im HAU Hebbel am Ufer auf den Spuren des legendären „Zodiak Free Arts Lab“ wandelt. Jenem kurzlebigen Projekt, das Ende 1960er Jahre am Halleschen Ufer Raum für musikalische Experimente bot, die bis heute weltweit nachhallen. Die einst dafür genutzten Räumlichkeiten werden derzeit saniert, mit der Verlagerung in den Jugendstilbau des HAU 1 soll aber auch der nostalgischen Verklärung ein wenig Vorschub geleistet werden.

Wohl aus ähnlichen Motiven lud HAU-Musikkurator Tobias Schurig mit The Notwist eine Band ein, die zwar den experimentellen Geist des Zodiaks weiterträgt und ein Gespür dafür besitzt, die Offenheit zu bewahren – ihre Songs zugleich aber auch in ein modernes Popgewand zu hüllen versteht. Eine Band, die weltweit Anerkennung erfährt, sich den kulturindustriellen Verlockungen aber stets widersetzte und ihre subkulturellen Nischen pflegte.

Ein Panorama nickender Köpfe

Kurz nach acht haucht die fragile Stimme von Markus Acher die ersten Zeilen von „Into Love/Stars“ ins Mikrofon. „Now that you know how much it hurts/Won’t save you from falling into love again“. Doch die neue alte Liebe wird auf die Probe gestellt. Seltsam distanziert wirkt das Geschehen, die Band versteckt sich hinter dutzenden flackernden LED- Lichtern, ihr Sound wirkt undifferenziert und verwaschen. Als wollten The Notwist das Publikum noch einmal durch die pandemische Verworrenheit führen. Doch spätestens mit „Pick Up the Phone“ von ihrem Meisterwerk „Neon Golden“ klart es auf. Ein Panorama nickender Köpfe zeichnet sich ab. Die ersten springen auf, tanzen am Rand. Diese Musik ist nicht für Theatersitze gemacht.

Endlich wieder die Druckwellen des Schlagzeugs im Magen spüren. Mit filigraner Präzision überträgt Drummer Andi Haberl die elektronische Beats älterer Songs auf sein Instrument. Sanft wie ein Masseur streichelt Karl Ivar Refseth über sein Vibrafon, Micha Acher zupft die schönsten Harmonien aus seinem Bass und Elektro-Mastermind Cico Beck lässt die Finger behänd über die diversen Gerätschaften wandern.

Meditationen auf Posaune, Tuba und Melodica

Die umfangreiche Diskografie der Band ist nur eine grobe Orientierungshilfe für eine ausufernde Jamsession. Die Songs greifen ineinander, verschlungen und verfremdet. Es wechseln sich Indieperlen wie „Kong“ mit Meditationen auf Posaune, Tuba und Melodica ab. Dann wieder drischt Markus Acher auf seine Gitarre ein, setzt gar zum Luftsprung an. Selbst der große Hit „Pilot“ reitet zu einem spontanen Rave davon.

„Total freie Musik. Jeder spielt. Alle spielen. Jeder kann es. Alle sollen“ hieß es im Zodiak. Wie die siebenköpfige Formation jetzt dasteht, vertieft und doch so präzise beieinander, kann man sich vorstellen, wie die Pioniere des Projekts einst befreit klimperten und klöppelten.

Zu ihrem Album „Vertigo Days“ erzählten The Notwist, dass sie sich bewusst entschieden hätten, die Zufälle zu suchen. Wiedergefunden hingegen, das lässt der frenetische Applaus erahnen, hat das Publikum seine alte Liebe zu einer Ausnahmeband. Und das war sicher kein Zufall. Es gibt ja ohnehin keinen Schutz vor dem Verliebtsein, singt die Gruppe. Jeder kann es. Alle sollten.