Was lernen Städte aus der Pandemie?

Vom Virus lernen und beim nächsten Mal besser gewappnet sein: Das könnte mit dem mobilen Quarantänezelt gelingen, das der Berliner Architekt Gustav Düsing zusammen mit MoMA-Kurator Carson Chan entwickelt hat. Bei der „Berlin Questions“-Konferenz stehen Düsing und Chan selbst in so einem hellen, grau-weiß gestalteten „Responsive Care Center“, wenn auch nur virtuell, denn in Realität existiert es noch nicht.

Die Wände sind aus fließenden Vorhängen. Der Pavillon kann dorthin gebracht werden, wo das Virus auftaucht und Menschen in Quarantäne gehen oder geimpft werden müssen. Die Architektur ist für eine neue Daseinsform optimiert, die weder Arbeit noch Freizeit ist, extreme Privatheit, aber auch Gemeinschaft ermöglichen soll.

So flexibel und adaptiv wie ein Virus müsse Architektur künftig sein, sagen Chan und Düsing. Damit ist ein erster Vorschlag für das Leben mit Pandemie und Klimawandel bereits gemacht.

Mehr Grün und bessere Luft

In Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone, ist der nächste Lockdown bereits Realität. Die Situation sei „schlimmer als je zuvor“, berichtet Bürgermeisterin Yvonne Aki-Sawyerr in einem Video-Statement. Aus Indonesien, das wegen steigender Meeresspiegel die Verlegung seiner Hauptstadt Jakarta plant, ist Bürgermeisterin Vera Revina Sari zugeschaltet und erzählt von Informationskampagnen rund um Covid-19 und einer App, über die Bewohner:innen sich zur Impfung anmelden können.

Michael Andrzej Olszewski, Oberhaupt der Stadt Warschau, beschäftigt sich, wie etliche seiner Kollegen, mit neuer Stadtbegrünung, breiteren Bürgersteigen und der Luftqualität, die dringend verbessert werden muss.

Yvonne Aki-Sawyerr ist seit 2018 Bürgermeisterin in Freetown in Sierra Leone.Foto: Promo

Wie geht es weiter nach und mit der Pandemie? Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller hat Entscheider, Wissenschaftler, Künstlerinnen und die Chefs und Chefinnen von Metropolen weltweit dazu eingeladen, über die Herausforderungen für Städte in Pandemiezeiten zu diskutieren.  „The New Now“, die neue Gegenwart, lautet das Überthema der mehrtägigen Metropolenkonferenz „Berlin Questions“, deren vierte Ausgabe eigentlich 2020 stattfinden sollte und die am Mittwoch im Berliner E-Werk mit einem vollgepackten Konferenztag begann.  

Bürgermeister aus Seoul, Jakarta, London und Buenos Aires

Elf Bürgermeister sind persönlich nach Berlin gekommen, um von der Situation in ihren Städten zu berichten. Andere konnten wegen der Pandemie nicht anreisen und waren per Videokonferenz aus Los Angeles, Seoul, Zürich, Buenos Aires und London zugeschaltet. Das gesamte Programm wurde auch online gestreamt, es sammelte sich aber auch eine kleine Schar an Live-Zuschauer:innen im ehemaligen Techno-Tempel E-Werk an.

Hat die Pandemie nur für Zerrüttung und Chaos gesorgt oder haben wir etwas gelernt? Wie bringt man Kinder zur Schule, wie adaptiert man das Gesundheitssystem, wie müssen sich Wohn- und Stadträume ändern, wie sorgt man für sozialen Zusammenhalt und integriert die Wissenschaft? Es sind viele große Themen, die freilich oft nur angerissen werden können.

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Als er vor sieben Jahren Bürgermeister wurde, sei viel über neue Wohnraumprogramme diskutiert worden, sagt Müller bei der Eröffnung. Auch über die Entwicklung von Städten sei gesprochen worden, aber nicht mit den Städten. Das habe sich jetzt geändert. Die Entscheider an den jeweiligen Orten hätten nun eine Stimme, seien Impulsgeber für ihre nationalen Regierungen. Der Austausch zwischen den Metropolen darüber, was funktioniert und was nicht, sei von großer Bedeutung für die künftige Entwicklung.

Oft fehlt es an Vertrauen

Viele der Bürgermeister, die nach Müller sprechen, betonen, dass sie in den Monaten der Pandemie mit ihren Kollegen weltweit in intensivem Kontakt standen. Covid-19 habe die Probleme der Stadt sichtbar werden lassen. Berlins Schulen und die Verwaltung seien auf die digitalen Herausforderungen nicht gut vorbereitet gewesen, gibt Müller zu. Nun gelte es zu lernen, etwa die Berliner:innen für neue Jobs und Arbeitsformen fit zu machen. Homeoffice klingt gut, ist es aber nicht für jeden.

Die neue Gegenwart sei für viele Menschen überhaupt nicht neu, sagt die ghanaisch-schottische Architektin Lesley Lokko, Mitgründerin des African Futures Institute in Accra. Reisebeschränkungen, Bürokratie bei der Migration, Zugang zu Gesundheitssystem, prekäre und unsichere Jobs seien für viele Menschen nur allzu bekannte Probleme. „Auch wenn wir es uns wünschen, ein kollektives ,Wir‘ gibt es nicht“, sagt Lokko.

„Africa als Labor für die Zukunft“ hat sie ihren Beitrag überschrieben und macht deutlich, dass in der Pandemie und in Protesten wie „Black Lives Matter“ alte Machtstrukturen aufscheinen, die nicht überwunden sind. Vertrauen sei das wichtigste Moment in der Krise, sagt Lokko. Oft fehlt es.

Lagos war plötzlich ganz still

Die Bilder, die Fotojournalistin Yagazie Emezi mitgebracht hat, zeigen Polizisten, die während des Lockdowns in Lagos Straßenkontrollen durchführen, und riesige Billboards, die den Menschen erklären, dass sie zuhause bleiben sollen. Das Mistrauen gegenüber dem Staat ist auch in Nigeria groß, viele haben das Ausmaß der Pandemie zunächst nicht geglaubt, erklärten Corona zur „Krankheit reicher Leute“. Dann wurde ein harter Lockdown angeordnet, und Emezis Fotos zeigen verwaiste Plätze und leere Straßen in einer Metropole, die sonst von Lärm und Motorenrauschen angefüllt ist.

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Gerade in den Beiträgen aus Afrika wird deutlich, dass die Isolation der vergangenen 18 Monate viele Metropolenbewohner zum Nachdenken und schließlich auf die Straße gebracht hat. Tausende junge Menschen demonstrierten ab Oktober 2020 friedlich gegen die Gewalt der „Special Anti Robbery Squad“ (SARS), einer 1992 gegründeten Spezialeinheit der nigerianischen Polizei, die mit Schlägen, Folter und ungeahndeten Morden die Bürger des Landes einschüchtert. Und wie bei den Protesten in Belarus spielten auch bei der #EndSARS-Bewegung Frauen eine wichtige Rolle.

Nur Material ohne Identität wird zu Müll

Was viele der Teilnehmenden umtreibt, ist die Zukunft der Architektur, ein Schlüsselthema der Urbanität. Architektur definiert das Zusammenleben der Menschen, sie separiert oder lässt Gemeinschaft entstehen, das zeigt Architektin Sumaya Vally anhand von Beispielen aus Johannesburg. Einerseits stellt die Pandemie neue Anforderungen an den Wohnraum, andererseits erzeugen Neubauten hohe CO2-Emissionen, verbrauchen Ressourcen.

„Wie ungesund exponentielles Wachstum ist, hat die Pandemie gezeigt“, sagt Sabine Oberhuber vom Beratungsbüro turntoo in Amsterdam. Effizienteres Bauen sei möglich, Lösungen längst da, wie Oberhuber an mehreren Beispielen erzählt. Die Menschen verhielten sich, als seien die Rohstoffe der Erde unerschöpflich. Oberhuber plädiert für einen „Material Passport“, denn nur Material ohne Identität werde zu Müll, und das solle erst gar nicht passieren.

Noch einen Schritt weiter geht Charlotte Malterre-Barthes von der Harvard University, wenn sie ein Moratorium für Neubauten vorschlägt, freilich etwas überspitzt formuliert. In vielen Metropolen werde immer mehr neuer Büroraum geschaffen, obwohl der Bedarf zurückgehe. Neubauten seien unnötig, stattdessen sollte der Bestand gepflegt und optimiert werden. Eine Forderung, der Martin Henn vom gleichnamigen Berliner Architekturbüro nur insofern zustimmt, als er sich gegen den Abriss von Gebäuden ausspricht.

Selbstbezogenheit schadet allen

Am Ende des ersten Konferenztages tritt die für ihre gesellschaftskritischen Reflexionen bekannte Künstlerin und Digitalexpertin Hito Steyerl auf. Sie macht sich Gedanken über die aus ihrer Sicht missverstandene „Tragödie des Gemeinwesens“, bezugnehmend auf einen Aufsatz des Ökologen Gareth Harding. Harding beschreibt darin, wie einzelne Individuen die Gemeinschaft ruinieren, indem sie geteilte Ressourcen privatisieren und ausbeuten.

Auch Staaten in der Klimakrise und Impfverweigerer legten dieses selbstbezogene Verhalten an den Tag, das für den einzelnen rational sein mag, für die Gemeinschaft aber schädigend ist. Die Gesellschaft könne sich diesen Individualismus nicht mehr erlauben, so Steyerl. In einer Computersimulation spielt sie durch, dass Gruppenprozesse immer im Chaos landen, so lange man den Algorithmus nicht mit Variablen wie Kollaboration und Solidarität füttert.

Die Konferenz führt die internationalen Gäste unter anderem in den bald wiedereröffnenden Spreepark in Treptow und ins Haus der Statistik am Alexanderplatz. Am Samstag endet sie in der temporär errichteten „Floating University“ am ehemaligen Flughafen Tempelhof.