Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (64): Jans Haus steht nicht mehr

7. September 2022

Bis ich neulich unter den Familienfotos ein Bild entdeckte, auf dem meine Mutter malt, war ich immer davon ausgegangen, dass sie damit erst vor zwei Jahren angefangen hatte. Ich kann mich nicht erinnern, sie als Kind je zeichnend gesehen zu haben. In der letzten Zeit ist sie aber sehr produktiv, fast täglich bekomme ich von ihr über WhatsApp eine neue Zeichnung, manchmal zwei. Besonders gelungen finde ich ihre Steine und Tomaten.

Wenn wir uns über Kunst unterhalten, sagte früher oder später eine*r von uns – schade, dass Jan nicht dabei ist, ich hätte es so gern mit ihm besprochen! Jan war ein Cousin meiner Oma, er hat uns in der Straße des 23. August oft besucht. Er trank Wodka mit meinem Opa und hörte dabei gern seine letzten Musikentdeckungen. In unserer großen Familie hat sich Opa damit oft einsam gefühlt, denn keiner von uns teilte seine Faszination für Odessaer Lieder oder Disco-Sounds aus Westdeutschland und Frankreich. In Jan sah er seinen einzigen Verbündeten.

Mit mir redete Jan anders als alle anderen Verwandten. Seine Fragen waren nicht die üblichen „Nu, was macht die Schule?“ oder „Hast Du schon eine Freundin?“. Er unterhielt sich mit mir über Bücher, die ich gelesen hatte und freute sich, wenn ich ihm meine Gedichte vorlas. Als ich Teenager wurde, trafen wir uns ab und zu bei ihm.

Er lebte zentral, nur wenige Meter vom Dserschinski Platz entfernt, hinter dem Verwaltungsgebäude in der Ivanova-Straße. Keine Ahnung, nach welchem Ivanov sie benannt war, Ivanovs gab es viele, alleine in meinem Freundeskreis kannte ich zwei, die Band Aquarium aus St. Petersburg, die ich damals mochte, hatte in ihrem Repertoire mehrere Songs über die Träger dieses Namens.

Mit mir redete Jan anders als alle anderen Verwandten. 

Yuriy Gurzhy, Kolumnist

Aquarium war die erste auf russisch singende Band, die ich für mich mit 14 entdeckt habe. Ich kaufte ihre gerade erschienene Platte und brachte sie mit zu Jan, mich interessierte seine Meinung. Auf der Rückseite der Plattenhülle war eine Einleitung vom bekannten Dichter Voznesenskij abgedruckt, in der er Aquarium mit Pink Floyd verglich. „Na sowas, der Typ hat keine Ahnung, wovon er redet, möchte aber mit ’nem coolen englischen Bandnamen beeindrucken!“, regte sich Jan auf. „Ich habe Pink Floyd gehört, die haben einen ganz anderen Sound!“ Weder meine Eltern noch mein musikinteressierter Opa wussten 1989 über Pink Floyd Bescheid. Jan war cool.

Leider kann ich weder bei meiner Mutter noch bei mir ein Foto von ihm finden, jedoch in meiner Erinnerung sieht er aus wie ein französischer Schauspieler aus den 60ern, wie ein älterer Alain Delon vielleicht. Manchmal besuchte ich ihn im Charkiwer Kunstmuseum, wo er arbeitete. Seine Führungen auf russisch und Ukrainisch waren beliebt. Auch mir hat Jan gern über die Gemälde erzählt, aber manchmal wollte er einfach wissen, was ich davon halte. Als er mir zuhörte, lächelte er. Ich glaube, mit meiner Expertenmeinung war er im Großen und Ganzen zufrieden.

Meine Mutter und ich spazierten an Jans Haus vorbei

Im September letzten Jahres waren meine Mutter und ich in Charkiw, ohne uns abgesprochen zu haben. Ich musste mit Serhij Zhadan das Album Fokstroty fertig produzieren, meine Mutter wollte nach 18 Jahren wieder ihre Heimatstadt und Freunde sehen. An einem sonnigen Tag trafen wir uns vor einem Café.

Ich war wenige Stunden zuvor gelandet, sie musste um 16 Uhr zum Flughafen. Bei unserem Spaziergang stießen wir auf einen Künstlerbedarfsladen und kauften Farben, Papier und Pinsel, die billiger waren als in Deutschland – und beide dachten wir an Jan, der viel zu früh vor 30 Jahren gestorben war. Meine Mutter ging noch an seinem Haus vorbei. Das tat ich auch jedes Mal, wenn ich in Charkiw war.

Heute früh stelle ich fest, dass Jans Haus es in die Nachrichten geschafft hat, genauer: das, was nach dem Beschuss durch russische Raketen übrig blieb. russland, Du Metzger, der immer neue Teile der Ukraine abzuschneiden versucht, eines Tages bezahlst du für jedes davon, und zwar den höchsten Preis!

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