Indigene Bestsellerautorin Angeline Boulley : Bücher können eine gute Medizin sein
Ahniin! Angeline Boulley nindiiznikaaz. Mukwa dodem. Ziisabaaka Minising endjoonjiibah. Hallo! Ich heiße Angeline Boulley. Ich gehöre zum Bärenclan. Meine Familie stammt von Sugar Island, einer kleinen Insel zwischen den USA und Kanada. Ich bin registriertes Mitglied des Stammes Sault Ste. Marie, der dem indigenen Chippewa-Stamm zugerechnet wird.
Wenn ich mich in Ojibwemowin vorstelle, verbinde ich mich mit meiner Gemeinschaft. Ich zelebriere damit, dass es unsere Sprache, die Sprache der Ojibwe, und unsere kulturelle Bildung noch gibt – weil es die Geschichten gibt. Durch das Geschichtenerzählen teilen wir mit, was es bedeutet, indigen beziehungsweise native zu sein, und was es bedeutet, ein Mensch zu sein.
Meine Native Nation ist die Ojibwe oder Chippewa Nation. „Ojibwe“ ist unsere Eigenbezeichnung, die von frühen Siedlern und Kolonisatoren zu „Chippewa“ anglisiert wurde. Weitere Native Nations sind beispielsweise die Irokesen, die Potawatomi, die Seminolen und die Cherokee. Innerhalb jeder Native Nation kann es zahlreiche Stämme oder Gruppen geben.
Der Stamm der Sault Ste. Marie Chippewa ist einer von 574 bundesstaatlich registrierten Stämmen, die zu verschiedenen indigenen Nationen gehören, das heißt, dass er von der Regierung der Vereinigten Staaten offiziell anerkannt wird. Mein Stamm besteht aus mehreren historischen Fischerdörfern. Das Sugar Island bildet eines dieser historischen Fischerdörfer. Diese Gruppe, dieses Dorf betrachte ich als meine Gemeinschaft, und ich bin mit vielen ihrer Mitglieder verwandt.
Wenn man die Wahrheit nicht lehrt, tritt anderes an ihre Stelle.
Angelina Boulley, Autorin
Als Kind habe ich von Geschichten gelebt. Mein Vater ist ein traditioneller Feuerhüter, ich bin tatsächlich – so wie ich meinen Roman genannt habe – eine firekeeper’s daughter! Während mein Vater sich bei speziellen kulturellen Ereignissen um die zeremoniellen Feuer kümmerte, erzählte er Geschichten. Feuerhüter achten darauf, dass die Abläufe eingehalten werden. Denn zeremonielle Feuer sind nicht bloß gewöhnliche Lagerfeuer.
Hier grillt man keine Würstchen, hier klatscht und tratscht man nicht und redet über Politik – hier werden nur gute Gedanken und Worte geäußert, um dieses spezielle heilende Feuer zu nähren. Es verbindet die Teilnehmenden, alle Anwesenden sind vereint in ihren Absichten.
Die Protagonistin schützt ihren Stamm vor Kräften von außerhalb
Ich glaube fest daran, dass Geschichten – wie ein Sprichwort besagt– „gute Medizin“ sind. Mit Geschichten verbinden wir etwas, das über uns hinausgeht: Menschlichkeit. In „Firekeeper’s Daughter“ schützt die Protagonistin Daunis Fontaine nicht nur die ihr Nahestehenden und ihre Gemeinschaft vor Menschen, die Drogen unter die Ojibwe-Gemeinschaft bringen wollen.
Ihr wird darüber hinaus klar, dass sie indigenes Wissen vor Kräften von außerhalb schützt, vor Kräften, die schon immer versucht haben, Kontrolle über unsere Mittel und Ressourcen zu erlangen – ob es sich um Nutzungsrechte für Land und Wasser handelt, um unsere Kinder und ihre Ausbildung, um unsere Sprache, Kultur und Spiritualität. Oder sogar: unsere Narrative.
Ich war achtzehn Jahre alt, als ich erstmals ein Buch mit einem indigenen Hauptcharakter las. Dabei wurde mir bewusst, was in meinen bisherigen Lektüren ausgelassen worden war. Wenn ich noch keine Geschichte mit indigenen Protagonisten gelesen hatte, so war es meinen Mitschüler*innen sicherlich genauso ergangen. Die Figuren in den Büchern sahen nicht aus wie ich (eine indigene junge Frau mit sehr heller Haut), hatten keine Familie, die meiner ähnelte (der Vater indigen, die Mutter nicht), und auch keine solche Gemeinschaft wie die Ojibwe, der meine Vorfahren seit zahllosen Generationen angehören).
Die wenigen Geschichten über indigene Völker spielen entweder in der Vergangenheit oder enthalten pauschalisierend Federkopfschmuck, Tipis und Pferde.
Angelina Boulley, Autorin
Wenn wir Geschichten über Wissenschaftler*innen, Erfinder*innen, Musiker*innen, Astronaut*innen, Lehrer*innen, Chirurg*innen und Architekt*innen lesen, die allesamt denselben sozioökonomischen Status und Hintergrund haben, sind das nur die Lebenserfahrungen einiger weniger. In Geschichten von Menschen mit diversen Hintergründen und ihren Errungenschaften steckt dagegen eine machtvolle Botschaft. Diese Lektüre stärkt das Bewusstsein für den Wert aller Menschen und Völker.
In meiner Kindheit haben wir eine Buchreihe der Autorin Laura Ingalls Wilder gelesen, „Unsere kleine Farm“. Das bekannteste Buch war „Kleines Haus in der Prärie“. Es handelt von einer Siedlerfamilie im späten 19. Jahrhundert und ihrem Kampf ums Überleben im mittleren Westens der USA. Die Reihe ist ein Kinderbuchklassiker. Doch in diesen Geschichten werden die Natives nicht als wirkliche Menschen dargestellt.
„Es gab keine Menschen. Nur Indianer lebten dort,“ heißt es in dem Buch. Die Natives werden auf entmenschlichende Weise beschrieben – „wild“, „ungestüm“ und „johlend“. Das vorherrschende Denken vieler Amerikaner*innen zu jener Zeit war, dass der „einzig gute Indianer ein toter Indianer“ sei. Tatsächlich taucht dieser Satz in der „Unsere kleine Farm“-Buchreihe an mehreren Stellen auf.
Ma Ingalls, die Mutter, fürchtet sich vor den Ureinwohnern. Verschwiegen wird in der Buchreihe jedoch, dass Pa Ingalls, der Vater, illegalerweise beschlossen hatte, das Land von Natives zu besetzen, das Osage Diminished Reserve. Es handelte sich um ein indianisches Gebiet in Kansas, das aus dem Übereinkommen von 1828 mit dem Osage-Stamm hervorgegangen ist. In diesem wurde festgelegt, dass der Stamm einen Teil des Gebiets abtritt, während der andere in seinem Besitz verbleibt. Dieser Teil wurde ab diesem Zeitpunkt „Reservat“ genannt.
Pa Ingall behandelte in dem Buch das Land wie sein Eigentum
Gute 33 Jahre später waren die Osage noch immer nicht für das Land bezahlt worden, dass sie zu den Bedingungen der Übereinkunft von 1825 abgetreten hatten. Die Nachfrage nach weiterem Land war groß. Siedler kamen nach Kansas und hofften, sich niederlassen zu können. Pa Ingalls war sich im Klaren darüber, dass es sich um das Territorium von Natives handelte, als er Bäume fällte, um ein Blockhaus zu bauen. Er behandelte das Land wie sein Eigentum, machte es urbar, hob einen Brunnen aus und jagte Wild, um das Fleisch zu essen und die Felle zu verkaufen.
Angenommen, man würde als Familie seit Urzeiten auf einem Stück Land leben, das nie an die US-Regierung abgetreten wurde – was würde man tun? Angenommen, man hätte die jährliche Reise gen Westen angetreten, um Großwild zu jagen und Nahrung für den Winter zu beschaffen, und fände bei der Rückkehr plötzlich eine Siedlerfamilie vor, die auf dem eigenen Land lebt und Ackerbau betreibt – was würde man tun? Angenommen, die Übereinkommen hätten den Ureinwohnern das Recht zugesprochen, diesen Siedlern beziehungsweise Besetzern Pachtgeld abzuverlangen – inwieweit würde das die Sichtweise auf die Geschichte in „Unsere kleine Farm“ verändern, in der „wilde Indianer“ zu den Ingalls nach Hause kommen, um Nahrung und andere Dinge einzufordern?
Bücher haben große Macht. Wenn es nur die Geschichten einiger weniger gibt, werden die Botschaften der Bücher durch eine schmale Linse gefiltert. Wenn man die Wahrheit nicht lehrt, tritt anderes an ihre Stelle. Wenn die einzigen Geschichten über indigene Völker durch die schmale Linse von „Unsere kleine Farm“ oder anderen ähnlich verzerrten, fehlerhaften, unvollständigen Büchern gefiltert werden, erfährt man über diese Völker nicht die Wahrheit.
Die wenigen Geschichten über indigene Völker spielen entweder in der Vergangenheit oder enthalten pauschalisierend Federkopfschmuck, Tipis, Pferde und ein auf Erbschaft basierendes Herrschaftssystem mit dem „Indianerhäuptling“ als König. „Indianerprinzessinnen“ gibt es nicht; diese Vorstellung basiert auf dem romantischen Mythos der schönen „indianischen“ Jungfer, deren Wert anhand ihrer äußerlichen Schönheit und ihrer Nähe zur Macht bemessen wird.
Die Romanfigur Daunis ist eine starke junge Frau
In „Firekeeper’s Daughter“ wollte ich eine körperlich und geistig starke indigene Protagonistin erschaffen. Daunis ist eine stattliche junge Frau, knapp ein Meter achtzig groß. Sie ist kräftig und muskulös, spielt Eishockey in einer Jungsmannschaft. Sie hat keine kupferbraune Haut, und Singen interessiert sie ebenso wenig wie Flöte spielen, Körbe flechten, töpfern oder türkiser Schmuck. Und doch ist sie eine junge Native. Nicht halb dies und halb jenes, sondern eine Ojibwe.
Sie musste sich, wie ich, tausendmal anhören: „Man sieht dir deine Herkunft ja gar nicht an!“, weil sie – wie ich – nicht dem Stereotyp einer Indianerprinzessin entspricht. Wir verteidigen unsere Identität, um zu erklären, dass wir als Natives nicht dem allgemeinen Klischee entsprechen müssen. Wir verteidigen uns, bis wir begreifen, dass kein Sich-Bewähren je ausreichen wird, wenn der Standard dermaßen beschränkt ist. Ich verteidige meine Identität nicht mehr. Ich weiß, wer ich bin und woher ich komme.
Kinder und Jugendliche sollen ihre Erfahrungen in Büchern wiederfinden. Meine Mitschüler*innen und ich hätten es verdient, Geschichten über indigene Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und aus verschiedenen Epochen zu lesen. Natives sind nicht alle gleich, eine einzige Erzählung wird ihnen nicht gerecht. Je diverser die Geschichten sind, desto besser vermitteln sie die Vielfalt indigener Bevölkerungsgruppen.
James Joyce sagte: „Im Besonderen ist das Universelle enthalten.“ Ich wollte eine spezifische Geschichte erzählen, die in meiner Gemeinschaft, den Ojibwe, angesiedelt ist, und in der viele Zwischentöne, unbequeme Wahrheiten und Augenblicke der Freude enthalten sind. Es ist wichtig, beim Lesen die Erfahrungen anderer Menschen und Bevölkerungsgruppen nachzuempfinden. Nur so wächst das Verständnis und das Mitgefühl für andere Kulturen und Nationen. Miigwech! Danke.
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