Chronik eines Skandals: Jennifer Hermoso und der Kuss des Präsidenten

Spaniens Fußball-Frauen gewinnen erstmals den WM-Titel. Durch ein Tor von Olga Carmona gelingt im Finale von Sydney ein 1:0-Erfolg gegen England. Besonders erleichtert ist danach Jennifer Hermoso, die 20 Minuten vor dem Ende einen Elfmeter verschießt. Statt mit einer komfortablen 2:0-Führung in die Schlussphase zu gehen, müssen die Spanierinnen bis zur letzten Minute zittern. Dann ist es vollbracht.

Sonntag, 20. August

Bei der Siegerehrung kennt die Euphorie keine Grenzen. Die Spielerinnen feiern ausgelassen, der Titel ist für alle der größte Erfolg ihrer Karrieren. Zwar galt Spanien vor der WM als Mitfavorit, aber das Binnenklima im Team von Trainer Jorge Vilda galt zumindest als angespannt.

Aus Protest gegen die umstrittenen Methoden des Coachs waren vor Jahresfrist 15 Nationalspielerinnen zurückgetreten. Zwölf davon erklärten vor der WM, wieder ins Team zurückkehren zu wollen, doch nur drei Spielerinnen wurden von Vilda auch nominiert. In all der Zeit stand der spanische Fußballverband RFEF unter dem Präsidenten Luis Rubiales immer fest zu seinem Trainer.

Wenn zwei Menschen miteinander eine unwichtige Geste der gegenseitigen Zuneigung teilen, darf man dem Mist, der da gesagt wird, keine Beachtung schenken.

Luis Rubiales, Präsident des spanischen Fußballverbands RFEF

Rubiales sollte nun zur auffälligsten Figur bei den Feierlichkeiten auf dem Rasen im Accor Stadium von Sydney werden. Der 46 Jahre alte ehemalige Profi, der seit 2018 Präsident des RFEF ist, herzt seine Spielerinnen vor, während und nach der Siegerehrung.

Besonders abgesehen hat er es dabei auf Hermoso, die er erst umarmt, dann am Kopf festhält und ihr schließlich einen Kuss auf den Mund drückt. Womit der eigentliche Skandal ins Rollen kommt. Noch am Abend äußert sich Hermoso auf die Szene angesprochen mit den Worten: „Es hat mir nicht gefallen. Aber was soll ich machen?“

Der Verbandschef ist derweil außer Rand und Band. Auf der Ehrentribüne hatte er sich nach dem Sieg in den Schritt gefasst, wenige Plätze neben ihm sitzt Spaniens Königin Letizia mit ihrer Tochter Sofia, in der Kabine kündigt Rubiales lachend an, Hermoso auf Ibiza heiraten zu wollen.

Montag, 21. August

Rubiales muss sich Fragen zu seinem Verhalten gefallen lassen, die Kritik am Kuss bezeichnet er zunächst als „Blödsinn“. Noch auf dem Weg zum Flughafen in Sydney sagt er: „Wenn zwei Menschen miteinander eine unwichtige Geste der gegenseitigen Zuneigung teilen, darf man dem Mist, der da gesagt wird, keine Beachtung schenken.“

Sein Wunsch soll nicht in Erfüllung gehen, am Montag versucht er schließlich die Wogen zu glätten. In einer Stellungnahme des Verbandes wird er mit den Worten zitiert: „Ich muss mich entschuldigen, da führt kein Weg dran vorbei. Und ich muss daraus lernen und verstehen, dass man als Präsident einer so wichtigen Institution wie der RFEF vorsichtiger sein muss, vor allem bei Zeremonien und dieser Art von Angelegenheiten.“

Missbrauch ist Missbrauch und wir haben alle die Wahrheit gesehen.

Statement der Finalgegnerinnen aus England

Von Hermoso wird ebenfalls ein Statement herausgegeben, in dem sie angeblich erklärt: „Es war eine völlig spontane, gegenseitige Geste in der großen Freude über den Gewinn der Weltmeisterschaft. Der Präsident und ich haben ein sehr gutes Verhältnis zueinander, er hat sich uns allen gegenüber hervorragend verhalten und es war eine natürliche Geste der Zuneigung und Dankbarkeit.“

Der Boss des spanischen Fußballverbands RFEF, Luis Rubiales, herzt Spielerin Jennifer Hermoso – und küsst sie ungefragt.
Der Boss des spanischen Fußballverbands RFEF, Luis Rubiales, herzt Spielerin Jennifer Hermoso – und küsst sie ungefragt.
© Reuters/Hannah Mckay

Später bestreitet Hermoso, diese Sätze gesagt zu haben. Es gibt den Verdacht, dass die Aussage komplett von der Kommunikationsabteilung des RFEF verfasst worden ist, ohne dass Hermoso sie freigegeben hat.

Dienstag, 22. August bis Freitag, 25. August

Die Aufregung um den Vorfall wird immer größer. Quer durch die spanische Gesellschaft werden Rücktrittsforderungen laut. „Was wir gesehen haben, ist inakzeptabel“, sagt beispielsweise der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez. „Und die Entschuldigungen von Herrn Rubiales reichen nicht aus, ich würde sie als unangemessen bezeichnen, deshalb muss er weitere Schritte unternehmen, um klarzustellen, was wir alle gesehen haben.“

Für Karl-Heinz Rummenigge ist der Kuss „absolut okay

Viele Frauen nennen das Verhalten beim Namen und sprechen explizit von „sexualisierter Gewalt“. In Deutschland hat Karl-Heinz Rummenigge eine andere Meinung, für ihn ist der Kuss „absolut okay“.

Der spanische Fußballverband beruft unterdessen eine Sondersitzung für Freitag, 12 Uhr, ein. Im Vorfeld verdichten sich die Hinweise, dass Rubiales dort seinen Rücktritt erklären will. Stattdessen nutzt er seine Rede für einen regelrechten Furor gegen alle Kritiker: „Ich werde nicht zurücktreten. Soll mich ein Küsschen in beiderseitigem Einvernehmen hier rausbringen? Ich werde kämpfen bis zum Ende.“ Weiter spricht Rubiales von einer „sozialen Hinrichtung“ und stellt sich als Opfer dar.

Damit eskaliert die Situation komplett. Hermoso gibt in den sozialen Netzwerken ein Statement ab: „Ich habe mich verletzlich und als Opfer einer impulsiven, sexistischen und unangebrachten Handlung gefühlt, der ich nicht zugestimmt habe. Einfach ausgedrückt, ich wurde nicht respektiert“, schreibt die 33-Jährige. Kurz zuvor hatten sich ihre Teamkolleginnen mit Hermoso solidarisiert und erklärt, so lange nicht mehr für Spanien antreten zu wollen, wie Rubiales im Amt sei.

Wir wollen, dass das zum MeToo des spanischen Fußballs wird. Es muss eine Veränderung geben.

Victor Franco, Präsident der obersten spanischen Sportbehörde

Weltweit erfahren Hermoso und ihre Teamkolleginnen Unterstützung. „Missbrauch ist Missbrauch und wir haben alle die Wahrheit gesehen“, erklärten die Finalgegnerinnen aus England. US-Star Alex Morgan schrieb, wie angewidert sie sei und der Mannschaftsrat des deutschen Teams verfasst dieses Statement: „Solch ein Verhalten ist nicht akzeptabel und noch weit untragbarer ist, es auch noch herunterzuspielen und die Spielerin unter Druck zu setzen. Niemand, absolut niemand sollte dies als Kleinigkeit abtun.“

Samstag, 26. August

Spaniens Verband ist in die Offensive gegangen und veröffentlicht Fotos, auf denen Rubiales bei der WM-Siegerehrung von Hermoso angeblich hochgehoben wird und sein Verhalten damit zu erklären sei. Des Weiteren werden rechtliche Schritte angekündigt.

Zunächst aber handeln andere: Die Fifa suspendiert Rubiales vorläufig für 90 Tage, und auch die oberste spanische Sportbehörde kündigt Sanktionen an: „Wir wollen, dass das zum ‚MeToo‘ des spanischen Fußballs wird. Es muss eine Veränderung geben“, sagt Präsident Victor Franco. Derweil tritt fast das komplette Trainerteam im spanischen Frauenfußball zurück, einzig Weltmeister-Coach Jorge Vilda steht weiterhin zu seinem Präsidenten.

Sonntag, 27. August

Die Fraktion der Rubiales-Unterstützer wird beständig kleiner. Vor dem La-Liga-Spiel gegen UD Almería am Samstagabend laufen Profis von Erstligist FC Cádiz mit einem Banner mit der Aufschrift „Wir sind alle Jenni“ auf den Rasen. Ähnliche Aktionen von Fans und Spielern gibt es am Wochenende auch auf anderen Fußballplätzen in Spanien. „Soweit es von uns abhängt, sind es die letzten Stunden von Rubiales“, wird Sportminister Miquel Iceta in der „El País“ zitiert. Noch aber ist der Präsident im Amt.