Argentiniens Sieg gegen Mexiko: Endlich ein gewaltiges Schauspiel bei dieser WM

Maradonas Schatten legt sich schon vor Anpfiff über das Lusail Stadion. Aus den Boxen erschallt das notorische „Live is Life“ vom österreichischen One-Hit-Wonder Opus und überall im weiten Rund beginnen Tausende von Fans rhythmisch zu klatschen. 1989 war Argentiniens Fußballlegende im Münchner Olympiastadion gefilmt worden, wie er sich bei dem Song aufwärmt und pausenlos lässige Kunststücke mit dem Ball macht. Der Clip gilt bis heute als Indiz für Maradonas überbordendes Genie.

Am Tag vor dem zweiten WM-Gruppenspiel der Argentinier gegen Mexiko jährt sich zudem Diegos Todestag das zweite Mal, was Trainer Lionel Scaloni zu dem Gelöbnis hinreißt, sein Team werde den Göttlichen da oben nach der schmachvollen Auftaktaktniederlage gegen Saudi Arabien nun wieder glücklich machen: „Wenn er uns da zusieht, wir ihm mit unserem Spiel morgen hoffentlich Freude machen.”

Als stünde für die Albiceleste nicht ohnehin schon genug auf dem Spiel. Denn eine Niederlage gegen den Rivalen aus Mexiko würde das Vorrunden-Aus bedeuten. Entsprechend fahrig startet das Team in die Partie. Wieder scheint es, als trage Lionel Messi einen extra Rucksack mit sich herum. Zudem gehen die Mexikaner rustikal zu Werke. Für ein Match auf diesem Niveau ereignen sich erstaunlich viele Fouls, ständig gibt es Wortgefechte, Hakeleien, allein Mexiko kassiert im Spiel vier Gelbe Karten.

Von besonderer Güte ist in der ersten Hälfte nur die Kulisse. Weil auf dem Rasen eher Stückwerk produziert wird, versuchen sich die gegnerischen Fans zumindest mit ihren Gesängen zu übertönen. Ein imposanter Wall of Sound. Der Geräuschpegel ist so hoch, dass sich einige Journalisten auf der Presstribüne zeitweise die Ohren zuhalten. Ein gewaltiges Schauspiel, dass die hitzige Partie noch um etliche Grade mehr aufheizt.

Lionel Messi wird von der Atmosphäre zusehends gepackt. Beim WM-Auftakt stand er oft hadernd oder mit hängendem Kopf auf dem Rasen, als sei er müde, ständig den eigenen Maßstäben gerecht werden zu müssen. Mit zunehmendem Spielverlauf gewinnt er nun stetig an Sicherheit, er fordert jeden Ball, und auch wenn seine Pässe des Öfteren in der aufopferungsvoll kämpfenden Defensive Mexikos hängen bleiben, ist spätestens nach der Pause klar: Diese argentinische Elf hat andere Ambitionen als das Team, das vor einigen Tagen eine 1:0-Führung gegen Außenseiter Saudi Arabien verspielte.  

Ein kurzer Antritt, ein lässiger Ausfallschritt und trocken schlägt der Ball ein

Drei Mal haben Mexiko und Argentinien bei Weltmeisterschaften bislang gegeneinander gespielt, drei Mal verließ die Albiceleste den Platz als Sieger. Und so ist es auch diesmal. Mexiko muss schon ab der 43. Minute auf Kapitän Andres Guardado verzichten, der mit 36 Jahren zwar nicht mehr der Jüngste ist, aber ein zentrales Element zur Stabilität im Spiel. Für ihn kommt Erick Gutierrez, der im zentralen Mittelfeld seine Sache den Umständen entsprechend gut macht.

Doch auch er kann nicht verhindern, dass der Druck der Argentinier übermächtig wird. Nicht eine einzige echte Torchance kann „El Tri“ kreieren. Und so kommt es, wie es kommen muss: In der 64. Minute wird Messi 20 Meter vor dem Tor angespielt, ein kurzer Antritt, ein lässiger Ausfallschritt und trocken schlägt der Ball im rechten unteren Eck des Kastens von Mexikos Torwartdenkmal Guillermo Ochao ein.

Lionel Messi lässt sich nach seinem Tor zum 1:0 feiern.
Lionel Messi lässt sich nach seinem Tor zum 1:0 feiern.
© Foto: IMAGO/ANP

Wie schwer die Last des drohenden Ausscheidens gewesen sein muss, wird er erst jetzt deutlich. In völliger Ekstase rennt Messi hinter die Grundlinie auf das Meer der Anhänger in hellblau-weißen Jerseys zu. Sie alle sind hierher nach Katar gekommen, weil sie von der Hoffnung beseelt sind, dass der Floh bei seiner fünften und nominell letzten WM die noch fehlende Stufe erklimmt, um zu Diego Maradona aufzuschließen: Dass er für Argentinien nach 36 Jahren wieder den Titel holt.

Das 1:0 ist Messis achter WM-Treffer, womit er zumindest in der Torstatistik mit Maradona gleichzieht. Die verbleibenden Minuten nutzt Argentinien für die große Ballbesitz-Gala. Mexiko gelingt es kaum noch, aus der eigenen Hälfte herauszukommen. Das Team von Lionel Scaloni zeigt nun die Coolness und das Selbstbewusstsein, das Experten schon zu Turnierbeginn erwartet hatten.

Mexiko oder Argentinien? Hauptsache Messi!
Mexiko oder Argentinien? Hauptsache Messi!
© Foto: AFP/JUAN MABROMATA

Das Lusail Stadion gleicht jetzt einer Kathedrale, kaum einen der 88 966 Zuschauer hält es noch auf den Sitzen. So absurd der Gedanke einer WM in der Wüste vielen erscheint, was sich nun auf den Rängen abspielt, die kreischenden Gesangskaskaden, die riesige Euphoriewelle, die sich tosend über dem Platz ergießt – aus beiden Lagern übrigens, denn die mexikanischen Fans geben selbstredend auch nach dem Rückstand nicht klein bei – entspricht voll und ganz den Erwartungen an ein globales Fußballfest.

In der 87. Minute stellt der eingewechselte Youngster Enzo Fernandez mit einem sehenswerten Tor den 2:0-Endstand her. Mexiko verliert auch seins viertes WM-Spiel gegen Argentinien. Der Matchwinner heißt Lionel Messi: „Er macht das, was er macht“, kommentiert Coach Scaloni nach Abpfiff kurz und knapp dessen Leistungssteigerung, „Tore schießen!“

Dieser Bestimmung muss der Superstar nun aber auch im letzten Gruppenspiel gegen Polen folgen, damit das Achtelfinale gesichert ist. Das weiß auch der Angesprochene selbst, dem die Erleichterung über den Sieg gegen Mexiko noch in der Mixed-Zone anzumerken ist: „Gott sei Dank! Wir haben gewonnen“, bricht es aus ihm raus, „es war ein sehr schwieriges Spiel. In der ersten Halbzeit haben wir nicht so gespielt, wie wir es wollten. In der zweiten Halbzeit haben wir uns gesteigert, die Fans haben uns bis zum Ende getragen. Jetzt haben wir ein Finale!“

Diego Maradona wird ob des Pathos in Messis Stimme bestimmt sicher im Jenseits eine Träne verdrückt haben. Wie weit es das Team in diesem Turnier angesichts zweier sehr gegensätzlicher Leistungen noch bringen wird, ist schwer vorauszusagen. Sicher jedoch ist: Maradonas riesiger Schatten liegt über jeder weiteren Partie. So lange Messi den Titel nicht gewinnt, bleibt der WM-Erfolg von 1986 für Argentinien das Maß aller Dinge. So ist das Leben, so ist der Fußball. Live is life.

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