„A Night for Ukraine“: Dies ist ihre Musik
Ja, natürlich kann man sagen: Wenn das Konzerthaus „A Night for Ukraine“ veranstaltet, im Rahmen des Festivals „Aus den Fugen“ – dann ist das doch nicht mehr als Symbolpolitik, was hilft das schon den Menschen in den zerschossenen, zerbombten Städten, auf die ein Horrorwinter ohne Strom und Wärme wartet? Trotzdem sind solche Aktionen wichtig: Damit wir hier mehr erfahren über das nahe, ferne Land, das wir nicht kannten und immer noch nicht wirklich kennen, und ganz konkret für die vielen Ukrainerinnen und Ukrainer im Saal, denen diese Musik wirklich etwas bedeutet. Und würden nur weiterhin schöne Symphonien gespielt werden, kommt nicht als erstes der Vorwurf, die Konzerthäuser ziehen sich in den Elfenbeinturm zurück, verweigern sich den Verwerfungen der Gegenwart?
Als hätte Jackson Pollock mal eben vorbeigeschaut
Das Podium ist in riesige blaue und gelbe Farbkleckse getunkt, als hätte Jackson Pollock mal eben vorbeigeschaut. Ein Streichquartett des Youth Symphony Orchestra of Ukraine, das am selben Ort schon bei Young Euro Classic zu hören war, tritt von hinten auf, spielt einen Choral von Bach: „Verleih und Frieden gnädiglich“ (aus BWV 126): traurig, berührend.
Natürlich erklingen vor allem Stücke ukrainischer Komponisten, doch dass die Ukraine auch Teil Europas ist, soll mit Bach demonstriert werden – und mit zwei Stücken von Maurice Ravel, „Pavane pour une infant défunte“ und der Konzertrhapsodie „Tzigane“ für Violine und Orchester. Solistin Diana Tishchenko spielt das sehr prägnant, meistert die rasant schnellen Figurationen im Finale souverän. In der nachfolgenden a-Moll-Melodie von Myroslav Skoryk aus dem Film „High Mountain Pass“ (1978) – manche bezeichnen sie als die inoffizielle Nationalhymne der Ukraine – zeigt sie, dass sie auch einen anderen Stil gut beherrscht, der geprägt ist von elegisch-weitausschweifenden Bögen.
Im Zentrum des Abends steht eine Suite von Mykola Lysenko (1842-1912), der als „Vater der ukrainischen Musik“ gilt und in seinem op. 2 volkstümliche Themen zu barocken Tänzen verarbeitet hat. Dirigentin Nataliia Stets wirkt, wie sie da geradlinig am Podium steht, enorm streng, soldatisch fast, aber der Musik kommt das zugute, sie hat die jugendlichen Musiker und Musikerinnen gut im Griff. Mit loderndem Mezzo singt Zoryana Kushpler eine Reihe von einander sehr ähnlichen Liedern von Anatoliy Kos-Anatolsky oder Yuliy Meitus, bevor der Abend auf seinen späten Höhepunkt zusteuert.
Wer kennt „Schtschedryk“? Antwort: Jeder! Die englischsprachige Welt hat es sich als „Carol of the Bells“ angeeignet, John Williams in „Kevin – Allein zu Haus“ verarbeitet, aber eigentlich hat das schlichte Lied mit dem extrem markanten Motiv, das nur eine kleine Terz umfasst, seine Ursprünge ein der Ukraine, wird dort zum Neujahrsfest Mitte Januar gesungen – und jetzt im Konzerthaus. Der Saal brodelt, man spürt körperlich, wie sehr die anwesenden Menschen das als „ihre“ Musik empfinden. Und als dann Stets auch noch mit ihren Händen ein Herz formt, wie es inhaftierte Maria Kolesnikowa in Belarus getan hat, dürfte sie die Herzen ihres Publikums endgültig gewonnen haben.
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