Max Beckmann in der Münchner Pinakothek der Moderne: Immer wieder Abschied
Max Beckmann kommt die Avenue de l’Opéra entlang, ganz der Weltmann, der er war, dann seine Ehefrau Mathilde „Quappi“, beide laufen abwechselnd auf die Kamera zu. Ein kurzer Amateurfilm, gedreht von Beckmanns im Jahr 1930. Paris war ein Sehnsuchtsort des Malers, hier verbrachte er regelmäßig den Winter. Sommers fuhr das Ehepaar gerne an die Côte d’Azur, dann mussten es die besten Hotels sein, in Cap Ferrat oder Menton. 1939 liebäugelten sie noch mit dem dauerhaften Umzug in die französische Kapitale, doch dann kam der 1. September, der Krieg brach aus, und Beckmanns saßen in Amsterdam fest, ihrem nur als Zwischenstation gedachten Exilort nach der überstürzten Abreise aus Berlin 1937.
Der 1884 geborene Beckmann ist zeitlebens gern und viel gereist, aber er ist ebenso ein Opfer der Zeiten gewesen, mit dem Umzug nach Berlin 1932, als es im überschaubaren Frankfurt für ihn gefährlich zu werden drohte, dann dem Exil in Amsterdam; schließlich 1947 der Übersiedlung in die USA, wo eine neue Zukunft winkte, die dann, des frühen Todes Ende 1950 wegen, doch nur eine kurze wurde.
Noch in Frankfurt hatte Beckmann erstmals ein Werk in der monumentalen Form des Triptychons begonnen und es fertiggestellt am letzten Tag des Jahres 1933 in Berlin. Er gab ihm den Titel „Abfahrt“ und beendete es als „Departure“. Wie kaum ein zweiter Begriff kann dieser nicht nur über seinem Lebenswerk stehen, sondern über seinem Leben insgesamt, das gekennzeichnet ist von Abfahrten und Abschieden. Unter diesem Titel zeigt jetzt die Münchner Pinakothek der Moderne eine Ausstellung zu Beckmanns Œuvre, die allein diesem Aspekt gewidmet ist und doch im Kern so etwas ist wie eine vollgültige Retrospektive, wie es sie seit der großen Übersicht zum 100. Geburtstag 1984 nicht mehr gegeben hat.
Allein drei der neun Triptychen Beckmanns hat das Team um Ausstellungskurator Oliver Kase zusammengetragen, neben der „Abfahrt/Departure“ aus New York auch das 1950 letztvollendete, die „Argonauten“ aus Washington, dazwischen „Versuchung“ von 1937 aus eigenem Bestand. Der ist ohnehin mit der umfangreichste an Beckmann-Bildern überhaupt, hinzu kommt das Beckmann-Archiv, das seit bald 50 Jahren systematisch aufgebaut wird und mit der Schenkung des Familienarchivs durch Enkelin Mayen Beckmann 2016 seine Krönung erfuhr.
Aus diesem Fundus schöpft die Ausstellung, indem sie Trouvaillen wie den erwähnten Amateurfilm vorführt, dazu zahlreiche Fotografien und Alben, alle von Quappi geführt; vor allem aber Dokumente wie Zolldokumente für seine Bilder, Rechnungen von Hotels und Schiffspassagen und dazu mehrere Pässe, diese schicksalhaften Papiere des Jahrhunderts. All das ist sinnvoll auf die gut 80 gezeigten Gemälde bezogen, die zeitlich mit den 1920er Jahren einsetzen und bis 1950 reichen, als Beckmann mit dem Panorama von San Francisco noch einmal eine große und wohl überhaupt seine größte Stadtansicht malt.
Beckmann ist weder an einer Küste aufgewachsen noch hat er je an einer gelebt, doch ist das Meer für ihn stets bedeutsam gewesen als Medium der Überfahrt ins Unbekannte, sowohl geografischer wie metaphysischer Art. Die Nordsee hat er gemalt und immer wieder das Mittelmeer, doch oft genug in schroffer Aufruhr, die den Atlantik vorausahnen lässt, dem er sich zu seinen letzten Überfahrten anvertraute. Die Gemälde fuhren ihm voraus. Als er 1946 die Ausfuhrgenehmigung für 15 seiner Bilder aus Amsterdam in die USA erhält, notiert er: „Damit fängt die Welt wieder für mich an, wo sie im Spätherbst 1932 in Frankfurt a/M aufhörte 14 Jahre exilé et condamné nun wieder frei – sehen wir was weiter kommt.“
In solchen Worten, den Tagebüchern anvertraut – die die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen nach und nach digitalisieren und ins Netz stellen –, scheint auf, wie wichtig ihm das Reisen war, selbst veranlasst ebenso wie aus tiefstem Inneren getrieben. Kase spricht von einem „Bewusstsein eines künstlerischen Lebens, das aus einer existenziellen Unruhe, der fehlenden gesellschaftlichen Stabilität, des stetigen schicksalhaften Wandels, der konzentrierten Beobachtung, der Magie des Augenblicks und der Sehnsucht nach dem Unbegrenzten erwächst“.
Damit ist umfasst, was in den Gemälden zu finden ist, hinter der oft heiteren, starkfarbigen Oberfläche, mehr noch hinter den erstaunlich zahlreichen Nachtansichten, die eine gelbe Mondsichel beleuchtet. „Es handelt sich für mich immer wieder darum, die Magie der Realität zu erfassen und diese Realität in Malerei zu übersetzen“, erklärte er 1938 in London zur Eröffnung der gegen die „Entartete Kunst“ gerichteten Ausstellung „20th Century German Art“, deren Katalog in einer Vitrine ausliegt – neben einer offiziellen Ansichtspostkarte (!) aus der Nazi-Schandausstellung, die ein großes, seither verschollenes Beckmann-Gemälde zeigt.
Viele Stadt- und Landschaftsansichten entstanden im engen Domizil in Amsterdam, aus dem Gedächtnis und unterstützt von der umfangreichen Sammlung von Ansichtspostkarten, die Quappi sorgsam hütete. Der Ehefrau, 1925 geheiratet, ist überhaupt das Familienarchiv zu verdanken, und im Abstand etlicher Jahrzehnte gewinnt noch die beiläufigste Hotelrechnung – handschriftlich und bis ins Detail einzelner Getränkebestellungen – die Aura eines Schlüsseldokuments. Mit einem Mal wird offenbar, woraus Beckmann seine Bildwelten geschöpft und geschaffen hat; doch ohne damit das Geheimnis ihrer künstlerischen Verdichtung preiszugeben.
Unüberschaubar viele Beckmann-Ausstellung hat es in den zurückliegenden Jahrzehnten gegeben, und die Literatur zu seinem Œuvre füllt Bibliotheken. Natürlich hat man etliche der in München gezeigten Bilder schon anderswo gesehen, in anderen Zusammenhängen, in Ausstellungen etwa zu den Landschaften oder zum Motivkreis des Meeres. Und doch ist in München alles noch einmal anders. Mit dem Großthema der Abfahrt, das die sorglose Urlaubsreise ebenso einschließt wie Abschied und Verlust, ja sogar Übergang und Transzendenz, ist ein roter Faden durch dieses Lebenswerk gelegt, das aller Ausdeutung zum Trotz seinen tiefsten, unerklärlichen Grund behält.
Erhard Göpel, der Freund in dunklen Stunden und Verfasser des ersten Werkverzeichnisses, hat über Beckmann geschrieben: „Er zog aus, sein Leben lang, das Goldene Vlies zu suchen, das für ihn das Goldene Vlies der farbig leuchtenden Leinwand, des gelungenen Bildes war“. Das letzte seiner Triptychen zeigt die „Argonauten“. Doch die beiden jungen Männer auf der Mitteltafel hat Beckmann schon 1905 einmal gemalt, auf dem Großformat „Junge Männer am Meer“ seiner Weimarer Studienzeit. In München hängen die beiden Werke einander gegenüber. Der Lebenskreis hatte sich geschlossen. Hier ist ein Lebenswerk zu besichtigen, das hinreichend bekannt schien und doch ganz neu und aufregend ist.
München, Pinakothek der Moderne, bis 12. März 2023. www.pinakothek.de
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