Auf dem Weg zur Totalverblödung
Der Mann, der da im Strickjacken-Look auf der Bühne im Neuen Haus des Berliner Ensembles hin und her schlappt, ist sich sicher: Etwas Größeres als die Geburt seiner Tochter hat er nie erlebt. Unfassbar, dieses „Wuuusch von Emotionen, von denen du nie geahnt hast, dass sie in dir leben“, schwärmt er leuchtenden Auges über die Rampe. Zu verdanken ist das „Wuuusch“ dem wissenschaftlichen Fortschritt. Seine Frau war mittels künstlicher Befruchtung schwanger geworden.
Wenig später steht der Strickjackentyp sprungbereit am offenen Fenster eines Hotelzimmers im 13. Stock. Und auch daran ist der wissenschaftliche Fortschritt schuld. Seine Frau hat die Geburt nicht überlebt. Eine nicht zwingend notwendige, aber besonders erfolgversprechende und exklusive reproduktionsmedizinische Zusatzmaßnahme hatte zu Komplikationen geführt.
Es ist also eine dialektische Situation, mit der Dennis Kellys neues Stück „Der Weg zurück“ – ein eigens fürs Berliner Ensemble verfasstes und von David Bösch inszeniertes Auftragswerk – beginnt. Allerdings zieht der Protagonist daraus leider gänzlich undialektische Schlüsse. Er wird, nachdem er im letzten Moment seiner Tochter wegen doch wieder vom Fenstersims herunterklettert war, zum kategorischen Wissenschaftsfeind und gründet eine Regressionsbewegung – was sich vor allem fürs Publikum nachteilig auswirkt.
Denn ab jetzt geht es im Stück genauso eindimensional weiter wie im Kopf des Protagonisten. Kelly entwickelt aus der durchaus komplexen Ausgangslage eine plakative Dystopie, die zwei Stunden und mehrere Generationen sowie Regressionsstufen später genau dort endet, wo man es von Anfang an geahnt hatte: in der diktatorisch verwalteten Totalverblödung.
Cranberrys statt Chemotherapie
Während sich der Maßnahmenkatalog in der Alterskohorte des Strickjackenträgers noch mehr oder weniger auf dem Niveau alternativer Krebstherapieversuche (Cranberrys statt Chemo) eingependelt hatte, setzt Tochter Dawn (Claude De Demo) mit ihrem Lover Jonathan (Dennis Svensson) bereits Forschungslabore in Brand und sprengt Universitäten in die Luft.
Die Enkel, ein Zwillingspaar, dessen männlicher Part (Jonathan Kempf) zudem von weinerlich-inzestuösen Neigungen zu Mutter wie Zwillingsschwester (Philine Schmölzer) geplagt wird, treten dann schließlich als militante Funktionäre eines „Nationalen Regressionsrats“ auf, der im Dienste einer allumfassenden Komplexitätsverweigerung entsprechende Sprachregelungen verordnet: Der Wortschatz darf nur noch aus Einsilbern bestehen.
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Dass der Abend reichlich unausgegoren wirkt, liegt vor allem daran, dass Kelly sich mehr fürs Abschöpfen von Oberflächenkategorien interessiert als tatsächlich in die darunter liegenden Diskurse einzusteigen. Im Grunde wirkt „Der Weg zurück“ wie eine wilde Schlagwort-Mixtur, die sich aus sämtlichen Richtungen der aktuellen Diskursmasse bedient und alles, was dort zu finden ist – von der „Wissenschaftsfeindlichkeit“ bis zur „Ökodiktatur“ – zu einem maximal düsteren Brei verrührt, von dem entsprechend nebulös bleibt, wen er eigentlich adressiert.
„Kill scientists, not animals“
Der Uraufführungsregisseur David Bösch bemüht sich nach Kräften, anstelle des Lichtes, das hier wirklich schwer ins Dunkel zu bringen ist, zumindest optische Abwechslung ins Einheitsanthrazit zu mischen. Auf der Bühne, die Patrick Bannwart mit pittoresk abgerocktem Mobiliar und ausgedientem Elektroschrott ausgestattet hat, ist entsprechend einiges los.
[Nächste Aufführungen am 4., 5., 9. und 10. DezemberNächste Aufführungen am 4., 5., 9. und 10. Dezember]
Erst kumpelt sich Gerrit Jansen als Regressionsvertreter der ersten Generation mit seinem Schlabberlook niedrigschwellig-sympathieheischend ans Publikum heran. Seine Tochter legt dann mit dem Objekt ihrer Begierde einen patenten Beziehungsanbahnungsslapstick hin, der freilich im maximalen Widerspruch zum Härtegrad steht, mit dem gleichzeitig konkrete Pläne zur Tötung von Wissenschaftlern geschmiedet werden. „Kill scientists, not animals“ steht auf der Brandmauer.
Patrick Bannwart und Falko Herold steuern schließlich noch eine kunstvoll apokalyptische Videoanimation mit ästhetisch adäquat antiquiertem Scherenschnitt-Charme zum Geschehen bei. Und Philine Schmölzer als Urenkelin „Dawn, die Zweite“, mit der die Story endet, monologisiert sich final mit großer Ausgestaltungslust an der verordneten verbalen Ungelenkigkeit durch eine Einsilber-Kaskade. Natürlich nur, um in der allgegenwärtigen Düsternis verbotenerweise nach jedem noch so kleinen Erkenntnislichtstahl zu haschen. Auf dass die Geschichte – so die Botschaft des Abends – in der Prähistorie wieder von vorn beginnt.