Bandera und ich
3. Juli 2022
An einem grauen Augusttag 2015 in Lwiw versteckte ich mich in einer Buchhandlung in der Lychakivska Straße, während draußen ein Unwetter wütete. Meine Aufmerksamkeit erregte ein Kinderbuch mit dem Titel „Bandera und ich“. Über Stepan Bandera (1909-1959), den Führer der Organisation der Ukrainischen Nationalisten (OUN), wird auch Jahrzehnte nach seinem gewaltsamen Tod in München heftig gestritten.
In meiner Kindheit habe ich von den Banderisten, den Anhängern Banderas, gehört – mal hat man über sie in der Geschichtsstunde geschimpft, mal tauchten sie als Karikaturen in sowjetischen Zeitungen auf.
Über die Geschichte zu rappen und zu tanzen – sehr modern!
Nach dem Zerfall der Sowjetunion hörte man den Namen Bandera in der Ukraine öfter als früher, es wurden regelmäßig Versuche unternommen, seine Rolle in der neueren Geschichte des Landes zu überdenken, während man in Russland der alten Haltung gegenüber den ukrainischen Nationalisten treu zu bleiben schien. Fast bei jeder Diskussion über Bandera, die ich mitbekommen habe, wurde es emotional und der Ton rau.
Es ist sicherlich eine Herausforderung für jeden Autor, der sich mit dem Thema auseinanderzusetzen traut. In welcher Form sollte man den jungen Lesern über Bandera erzählen? Ich nahm das Buch und setzte mich in die Ecke …
Ein Junge soll in der Schule einen Vortrag über Bandera halten. Sein älterer Bruder, der schon an der Uni studiert, hilft ihm bei der Recherche. Je weiter ich mich in den Text vergrub, desto stärker wurde das Gefühl, dass ich dieses Buch schon mal gelesen habe.
Dann fiel es mir endlich ein: Ich verwechselte es mit den Büchern über Lenin, die bei uns jeder in den ersten Schuljahren lesen musste. Dieser einfache und leicht pathetische Stil, erstaunlich ähnliche kleine Anekdoten. Die Autorin stellte Bandera als einen Held dar, der aber gleichzeitig ein ganz einfacher Mensch war (und dazu noch Kinder mochte). Eine solche Erzählweise hätte vielleicht die Generation meiner Eltern beeindrucken können, aber würden die Kids von heute das spannend finden?
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Als ich 2015 vom amerikanischen Musical „Hamilton“ hörte, war ich begeistert. Über die Geschichte zu rappen und zu tanzen – eine höchst moderne Art, sich mit oft schwierigen Fragen auseinanderzusetzen! Ein Jahr später meldeten sich die Kollegen vom Studio Я des Gorki Theaters bei mir, sie saßen am Konzept der Performance-Reihe „Mythen der Wirklichkeit“ über historische Figuren, die zu Propagandazwecken instrumentalisiert werden und fragten, ob mir eine solche Person in der Geschichte der Ukraine einfalle.
Ich erzählte ihnen von Bandera und schlug halb im Scherz vor, Hip-Hop-Songs über den OUN-Führer zu schreiben. 2017 probten Marina Frenk und ich dann tatsächlich unsere HipHopera „Bandera“.
Monatelang davor saß ich zu Hause mit dicken Büchern ukrainischer, amerikanischer und europäischer Historiker, auch Marina tauchte tief in die ukrainische Geschichte des 20. Jahrhunderts ein. Wir schrieben zehn Lieder über Banderas Werdegang, den Teppich in seiner Zelle im KZ Sachsenhausen und die heikle Frage, ob und wie OUN am Holocaust mitgewirkt hat. Wir zitierten auch aus den Texten der Gruppe sowie aus den Werken von Timothy Snyder.
Das russische Fernsehen berichtete über uns
Unsere Songs waren oft frech und zynisch, wir haben viele Fragen gestellt und ließen unser Publikum darüber nachdenken. Bei der ersten Vorstellung schaute ich in die Gesichter der Zuschauer– selten habe ich bei meinen Konzerten solche Spannung gesehen. Ich dachte kurz, wir werden ausgebuht, aber es war ein großer Erfolg. So groß, dass eine der schlimmsten Propaganda-Sendungen des russischen Fernsehens über unsere HipHopera berichtete!
Vor ein paar Tagen wurde ich gefragt, ob wir uns vorstellen könnten, unsere HipHopera wieder aufzuführen. Ich musste überlegen. Auch heute, fünf Jahre nach der Premiere, glaube ich, dass die von uns gestellte nFragen nichts an Aktualität verloren haben. Aber ich habe trotzdem Nein gesagt, denn zur Zeit gibt es viel wichtigere Fragen.
Ich schlage vor, dass wir die Sache mit Bandera nach dem Sieg der Ukraine klären, okay?
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