Theater in den Sophiensälen: Entgrenzter Horizont
„Ich hatte immer den Wunsch, kein Mensch zu sein“, bekennt Charlotte an ihrem 88. Geburtstag. „Nichts ist menschlicher“, entgegnet ihr überaus verständnisvoller Pflegeroboter. Der humanoide Dienstleister umsorgt die Jubilarin nicht nur anlassgemäß mit Schnaps und Geschenken, er nimmt ihr auch alles ab, was er kann.
Das Weinen zum Beispiel. Anstelle Charlottes vergießt er ein paar Freudentränen über den schönen Tag – und holt noch die bitteren Tränen nach, die sie nicht verdrücken konnte, als sie „50 und vollkommen allein und hilflos war“. Wenn schon kein Herz, dann hat dieser Roboter doch einen Schaltkreis aus Gold. Und einen gut gefüllten Wassertank.
Die Szene stammt aus dem Abend „Verrückt nach Trost“ von Thorsten Lensing, der nach der Uraufführung bei den Salzburger Festspielen im Sommer jetzt seine Berlin-Premiere in den Sophiensälen gefeiert hat. Hier war von Lensing zuletzt vor vier Jahren der fulminante David-Foster-Wallace-Freejazz „Unendlicher Spaß“ zu sehen, der in der Folge auch zum Theatertreffen eingeladen wurde.
Jetzt hat der Regisseur – mit Inszenierungen wie „Karamasow“ oder „Kirschgarten“ als eigenwilliger Klassiker-Exeget etabliert – zum ersten Mal selbst ein Stück geschrieben. Eines, das voll Neugier auf die Conditio humana blickt, das von der Einsamkeit als Grundausstattung und der Unfähigkeit erzählt, echte Nähe zu anderen Lebewesen herzustellen – und das dabei, gerade im ersten Teil, immer wieder bestürmend komisch ist (Nächste Vorstellungen: 2., 7. bis 9.10., um 19 Uhr ).
Lensing hat vier seiner Stammkräfte versammelt – Ursina Lardi, Sebastian Blomberg, André Jung und Devid Striesow –, die in wechselnden Rollen eine Theater-Extravaganza entzünden, wie sie lange nicht zu sehen war. Anfangs begegnen wir den zehn- und elfjährigen Geschwistern Charlotte und Felix (Lardi und Striesow) am Strand, wo die enorme Metallwalze, die Gordian Blumenthal und Ramun Capaul auf die leere Bühne gestellt haben, die Wogen verkörpert.
Die beiden träumen sich Tiere herbei
Die Kinder spielen, im erprobten Ritual, die eigenen Eltern nach, deren vertraut-frivolen Umgang miteinander. Aus traurigem Anlass: Mutter und Vater sind tot. Wie es bei Kinderspielen ist, braucht das Geschehen keine Begründung, sind die Fantasiehorizonte entgrenzt.
Die beiden träumen sich Tiere herbei, einen Orang Utan und eine Schildkröte – und allein zuzusehen, mit welcher Genauigkeit André Jung seinen Affen gibt und Sebastian Blomberg das Reptil, lohnt schon den ganzen Abend. Verwandlungskunst ist im Theater ja nicht mehr so hoch geschätzt. Hier merkt man, was dadurch auch verloren geht.
Die Szenen schwimmen ineinander, ein Taucher mit Gedichte-Obsession und Sinnkrise tritt auf („Weil ich der Welt nichts zu sagen habe, spreche ich in fünffüßigen Jamben“). Ein Buch, das er gerade liest, öffnet die Tür zu einem Parkplatz, wo ein Baby nichts Gutes von der Welt zu erwarten hat. Und ganz abrupt ist die Kindheit auch schon vorbei.
Im zweiten Teil ist zu erleben, wie Felix als gefühlstauber Erwachsener um Beziehungen ringt. Und wie Charlotte, einen Pflegeroboter an ihrer Seite, mit sich ins Reine kommt. Sicher, hier und da ist „Verrückt nach Trost“ etwas aphorismenselig, am Ende sehr christlich geraten. Andererseits: dass ein Theaterabend Hoffnung machen will, auch das erlebt man nicht alle Tage. Patrick Wildermann
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