Die Normalität rechtsextremer Gesinnung

Daniel Schulz verspätet sich etwas an diesem februartrüben Mittwochmittag und die „taz“-Kantine in der Friedrichstraße leert sich schon langsam.

Der Schriftsteller Detlef Kuhlbrodt ist gerade noch rechtzeitig zu einem Mittagessen gekommen, nebenan sitzen zwei Korrespondenten aus dem Parlamentsbüro und unterhalten sich über die Ukraine-Krise, aus den Boxen schallt ein Song der einstigen New-Romantic-Band The Chameleons.

Und auch Helmut Höge, wie üblich in Anzug und langem schwarzen Mantel, holt sich schnell einen Kaffee, um sich danach oben im Haus an einen Computer zu setzen.

Es ist eins der Milieus, die man von der „taz“ her kennt, daran hat das neue Haus nicht viel geändert – und dieses Milieu erscheint immens weit weg von jenen sozialen Strukturen, denen der seit 2003 bei der „taz“ tätige und inzwischen für das Reportage-Ressort zuständige Daniel Schulz entstammt: geboren 1979 in Potsdam, wuchs er in einem Dorf im Havelland westlich von Berlin auf.

Die Jugend malt in der Schule Hakenkreuze auf die Tische

In seinem gerade veröffentlichten Debütroman „Wir waren wie Brüder“ (Hanser, Berlin 2022. 286 Seiten, 23 €.) erzählt er davon, was es bedeutet, in Dörfern und kleineren Gemeinden irgendwo in Brandenburg kurz nach der Wende aufzuwachsen. Rechte Gewalt ist an der Tagesordnung, die Älteren sind arbeitslos geworden, sind desillusioniert und frustriert und machen nichts anderes mehr als „hinter den Garagen“ zu sitzen und zu saufen.

Und die Jüngeren? Malen in der Schule Hakenkreuze auf die Tische, hören Bands wie Böhse Onkelz, Landser und Zillertaler Türkenjäger, haben in ihren Jugendzimmern Reichskriegsflaggen und Hitlerbilder hängen und verzieren ihre Autos mit Aufklebern, auf denen „Euthanasie“ steht.

„Der Fall der Mauer brach mir das Herz“, bekannte Daniel Schulz vor drei Jahren in einem preisgekrönten Reportageessay, der ebenfalls mit „Wir waren wie Brüder“ überschrieben war. „Ich hatte Angst vor dem Westen, vor den Faschisten, einfach davor, dass alles, was ich kannte, kaputt gehen könnte“, heißt es darin.

„Die Erwachsenen rührten keinen Finger. Sie saßen vor dem Fernseher und sahen sich Demonstrationen an. Sie unterrichteten uns weiter in der Schule, als sei alles völlig normal. Dass wir wirtschaftlich keine Chance hatten, war mir ja klar, jeder Junge, der wusste, wo die Matchboxautos herkommen, begriff das. Aber mein Vater war Oberstleutnant der verdammten Nationalen Volksarmee, er hatte mal dreißig Panzer kommandiert, wo waren die denn jetzt.“

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Die Reportage von damals ist ziemlich persönlich gehalten, Schulz spricht darin viel von „Ich“ und „Wir“. Als er schließlich eintrudelt und sich hinsetzt, in Wollpullover, schwarzer Hose mit dezenten Streifen und Doc-Martens-Halbschuhen, liegt natürlich sofort die Frage nahe, wie autobiografisch sein Roman ist, wieviel zwischen ihn und seinen Erzähler passt.

Zumal bei der Lektüre manche Episode aus der Reportage bekannt vorkommt. Doch er wiegelt gleich ab: „Der Erzähler bin nicht ich, da sind ganz klar auch Erfahrungen meiner Arbeit als Reporter drin, Recherchen von mir aus den vergangenen Jahren. Ich hatte das Gefühl, dass man in einem Roman noch mehr über zwischenmenschliche Beziehungen sagen kann, über Männlichkeit, traditionelle, fehlgeleitete, toxische, über Dinge, die man nur in Graustufen darstellen kann.

Die rechte Gewalt ist das eine. Das andere, dass der Erzähler versucht, sich mit seiner Ohnmacht und Schwäche gegenüber gesellschaftlichen Prozessen auseinanderzusetzen, mit den Hinterlassenschaften der DDR-Diktatur, auch mit seinem eher märchenhaften Verständnis von Sozialismus und Gerechtigkeit.“

Tatsächlich stehen viele dieser Themen zunächst im Vordergrund von „Wir waren wie Brüder“. Schulz erzählt episodenhaft und in einer direkten, einem Teenager nachempfundenen Sprache von einer Kindheit und Jugend auf dem flachen Brandenburger Land: von Familienfeiern, Möhrenklappern, Badeseen, Begegnungen mit Freunden, Erfahrungen an der Schule, gerade nach dem Wechsel aufs Gymnasium.

Angst hier, Anpassung dort

Erst nach und nach, mit dem Eintritt in die späte Adoleszenz entwickelt sich die Problematik der rechten Milieus Ostdeutschlands. Wie hier Gewalt, ob subtil oder relativ offen, zum Alltag gehört, wie sich Bürgerlichkeit oder gymnasiale Bildung und rechte Einstellungen nicht ausschließen. Wie hier Rechtssein zur Normalität gehört, und zwar weniger in organisierten Strukturen oder Parteien als vielmehr in Freundschaftscliquen und anderen Gesellschaftszusammenhängen.

Schulz spricht später davon, ein weiteres Mal auf die autobiografischen Anteile Bezug nehmend, dass er natürlich „erfahrungsbasiert“ geschrieben habe. Andererseits solle das, was er schildert, auch repräsentativ für die damalige Zeit und verschiedene Orte gerade in Ostdeutschland stehen.

Überdies vermag er präzise die Ambivalenz eines Heranwachsenden in diesem besonderen Milieu darzustellen: hier die Angst vor den harten Rechten, den schlägernden Glatzen, allein wegen des anderen Outfits, der langen Haare, der Tendenz zum Dicklichen; dort wiederum der Hang, sich anpassen, mitmachen, viel schlimmes Zeugs schlucken zu müssen, um nicht allein dazustehen. Zumal viele der Bekannten und Freunde des Erzählers keine offensichtlichen Neo-Nazis sind.

„Wir waren wie Brüder“ ist ein Onkelz-Zitat

„Wir waren wie Brüder“ trifft es gut. Der Titel signalisiert unter anderem, dass rechtes Gedankengut nicht als geschlossenes Weltbild, sondern als popkulturelle Referenz in die (klein-)bürgerliche Normalität einsickert, in Form von Songs, Schriftzügen, Klamotten oder Caps – das aber ganz ohne damit Distinktionsgewinne erzielen zu wollen.

Der Titel ist einer Songzeile der Böhsen Onkelz entnommen: „Wir waren mehr als Freunde / Wir war’n wie Brüder / Viele Jahre sangen wir / Die gleichen Lieder.” Schulz weiß um die Problematik des Zitats. Er und sein Verlag hätten lange diskutiert, ob es klug und sinnvoll sei, so eine Zeile von einer umstrittenen Band eins zu eins zu übernehmen – um zu dem Schluss zu kommen, dass diese eben jene Normalität gerade in den neunziger Jahren gut abbilde.

Und wie schaut es in der Gegenwart aus? „Man kann meinen Roman nicht in die heutige Zeit kopieren. Höchstens als Nukleus. Denn dieses Verständnis, dieses Sichberufen auf eine spezifisch ostdeutsche, nicht zuletzt gegen den Westen gerichtete Identität, das hat damals angefangen.“

Wurzeln des Romans liegen in der Wirklichkeit

Schulz hat seinen Reportageessay 2018 aus Anlass der Ereignisse in Chemnitz und Köthen geschrieben, einer tödlichen Messerattacke und den darauf folgenden Demonstrationen von Rechtsextremisten. Angesprochen auf die mögliche Bestärkung des Klischees von prügelnden, rechten Ostdeutschen durch seinen Roman, ob es Ähnliches nicht auch in Westdeutschland gebe und gegeben habe, sagt er zunächst: „Die Statistiken zu den Gewalttaten, gerade in den neunziger Jahren, sprechen in Relation zur Gesamtbevölkerung eine eindeutige Sprache.“

Er gibt aber zu, dass die Gefahr der Klischeeverstärkung bestehe. Aber: „Ich nehme an einem Gespräch teil, das seit 30 Jahren geführt wird. Diese Probleme sind nicht neu, andere haben die vor mir beschrieben. Die Wurzeln meines Buches liegen in der Wirklichkeit.“

Diese Wirklichkeit hat er wiederum unter anderem in der Beschreibung der Schauplätze von „Wir waren wie Brüder“ versucht zu verfremden: Markheide, Kleinau, Starow oder Havelburg, wie die Orte bei ihm realistisch brandenburgisch heißen, finden sich auf keiner Landkarte. Einer der Gründe sind seine Eltern, die er damit schützen will. Ein anderer, das betont er, bevor er in den oberen Stockwerken des „taz“-Gebäudes an seinen Arbeitsplatz geht, sei eine gewisse „Universalität“, die er seinem Roman habe geben wollen.