Buch über Goebbels’ Sportpalastrede: Aufstachelung zum Völkermord
„Ich frage euch: Wollt ihr den totalen Krieg?“ Die Antwort sind Ja-Rufe und starker Beifall, genauso wie bei der Anschlussfrage: „Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstellen können?“
Die Rede, die Joseph Goebbels vor 80 Jahren, am 18. Februar 1943, im Berliner Sportpalast hielt, gilt als ebenso perfide wie wirkungsvolle Propagandaleistung. Sie ist ein Musterbeispiel von Massensuggestion. Der Rede wurde sogar zugeschrieben, die Existenz des Nazi-Regimes um viele Monate verlängert zu haben. Doch der Historiker Peter Longerich kommt in seinem Buch „Die Sportpalastrede 1943“ zu einer anderen Einschätzung.
Goebbels hatte seit Anfang des Jahres das Projekt einer „Totalisierung“ des Krieges mit großer Energie betrieben. Dabei ging es um die Einführung einer Arbeitsdienstpflicht für Frauen, die Einstellung nicht kriegswichtigen Industrien und die Stilllegung von teuren Restaurants und Luxusgeschäften.
Doch die vom Minister angekündigten Maßnahmen, mit denen mehr Soldaten für die Front und mehr Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie beschafft werden sollten, stießen in der NS-Hierarchie auf Widerstand. Hitler zeigte sich, was die stärkere Indienstnahme von Frauen betraf, reserviert. Der totale Krieg, so spitzt Longerich es zu, fand nicht statt.
Die Formel vom „totalen Krieg“ war seit den Dreißigerjahren im Umlauf, in Deutschland galt sie – so Longerich – als „Schlüssel für einen künftigen Kriegserfolg“. Geprägt hatte sie der ehemalige Generalquartiermeister Erich Ludendorff in seiner gleichnamigen, 1935 erschienenen und damals viel beachteten Schrift. Als treibende Kraft der Obersten Heeresleitung war er im Ersten Weltkrieg zum Quasi-Diktator aufgestiegen.
Für die Niederlage, die sein formeller Vorgesetzter Paul von Hindenburg und er nicht hatten verhindern können, machte er die Politiker verantwortlich, die schließlich die Kapitulationsurkunde unterzeichnen mussten. So setzte er die Dolchstoßlegende von der „im Felde unbesiegten“ deutschen Armee in die Welt. Ein Verschwörungsmythos, der für die Weimarer Republik zum tödlichen Gift wurde.
Aus den Erfahrungen des verlorenen Kriegs zog Ludendorff die Schlussfolgerung, dass ein „Zukunftskrieg“ nur gewonnen werden könne, wenn alle Lebensbereiche sich diesem Ziel unterordnen würden. Voraussetzung dafür sei eine absolut geschlossene „Heimatfront“. Goebbels machte sich den Begriff des „totalen Kriegs“ zu eigen und übernahm in seiner Rede auch die wesentlichen Elemente von Ludendorffs Argumentation.
In der nationalsozialistischen Variante des totalen Krieges, so fasst es Longerich zusammen, ging es nicht nur um die „vollständige Ausschöpfung und Mobilmachung in allen Lebensbereichen“ sowie die Radikalisierung der Kriegsführung, die „generell den Unterschied zwischen Kombattanten und Zivilisten“ aufhob. Für das Ziel eines „Endsiegs“ wurde der massenhafte Tod von Unschuldigen in Kauf genommen. Entscheidend hinzu kam die Dimension einer rassistisch motivierten Vernichtungspolitik.
Die Massenmorde an Juden hatten mit dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 begonnen und waren, so der Historiker, „gleichsam im Schatten des sich (…) immer mehr in die Länge ziehenden Krieges“ intensiviert worden. Longerich, der lange an der Universität London lehrte und heute in München, lebt, hat neben einer Goebbels-Biografie auch eine große Studie über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland veröffentlicht.
Der Völkermord an den Juden ließ sich angesichts seines Ausmaßes spätestens ab Ende 1942 nicht mehr geheim halten. Gerüchte waren weitverbreitet, Quellen waren unter anderem Soldaten, die Erschießungen im Osten beobachtet hatten, oder Mitarbeiter der Reichsbahn, die Deportationszüge fuhren und abfertigten. Hitler erwähnte im Lauf des Jahres 1942 mehrfach die vor sich gehende „Ausrottung“ der Juden.
Im Februar 1943 steckt Hitlers Staat in seiner bislang größten Krise. Die Einkesselung der 6. Armee in Stalingrad hat man lange verheimlicht, nun feiert Goebbels ihren Untergang als „großes Heldenopfer“. Longerich beschreibt die Vorgeschichte und Nachwirkungen der 108 Minuten langen, im Radio verbreiteten Rede, ordnet ihren Wortlaut kommentierend ein. Die Sprechchöre waren einstudiert, mit dem Zustimmungsorkan am Ende sollte die Versammlung plebiszitären Charakter bekommen.
Goebbels ergeht sich in langen antisemitischen Passagen, bezeichnet Juden als „Inkarnation des Bösen“ und fordert ihre „vollkommene und radikalste Ausschaltung“. Der Zwischenruf „Aufhängen!“ spinnt seinen Gedankengang weiter. Auf welche Weise sich Deutschland gegen die angeblich von den Juden ausgehende Gefahr wehre, so fährt Goebbels fort, sei „unsere Sache, in die wir keinerlei Einspruch dulden“, was mit starkem Applaus quittiert wird.
Anschließend verhöhnt er die „heuchlerischen Krokodilstränen“, mit denen das „feindliche Ausland“ auf die „antijüdische Politik“ Deutschlands reagiere. Das Wort „Ausschaltung“ klingt bei ihm – ein Versprecher? – fast wie „Ausrottung“. Vom „Geschrei des internationalen Judentums“, ruft Goebbels, werde man sich nicht von der Fortführung des „gigantischen Kampfes gegen diese Weltpest“ abbringen lassen.
Mit dieser Anspielung, so Longerich, setzt Goebbels eine Linie fort, die Hitler und anderen führende NS-Politikern bereits seit längerem verfolgen. Sie bestätigen durch gezielte Signale die im Umlauf befindlichen Signale über die Ermordung der Juden, ohne dabei Einzelheiten preiszugeben.
Es ist eine laute, unheimliche Rede, die von Peter Longerich beinahe Satz für Satz seziert wird. Der Völkermord an den Juden ist darin kaum verklausuliert. Auf die Ausfälle des Ministers reagiert das Publikum mit Jubel.
15.000 Menschen sollen in der Halle gewesen sein. Unter ihnen waren neben Parteiprominenz, Soldaten und Kriegsversehrten auch die Schauspieler Heinrich George, Eugen Klöpfer, Bernhard Minetti und Theodor Loos. Auch sie zeigten Begeisterung.