Methusalems und Jungspunde: Impressionen vom Jazzfest Berlin 2023
Da passiert doch nichts, beschwert sich die Dame in der vorderen Reihe bei ihrem Mann. Und zweifellos kann einem die Dreiviertelstunde, in der Marlies Debacker ihrem Flügel zumeist stehend akkurat ausgehörte Obertonspektren, Schwebungen und schwere Glockentöne entlockt, wie ein Stück Unendlichkeit vorkommen. Die linke Hand auf den Saiten, die rechte auf der Tastatur, erschafft sie zart ineinanderfließende und wieder auseinanderstrebende, mitunter abrupt akzentuierte Formen und Figuren. Das größte offensichtliche Ereignis ist die Haarlocke, die der 31-jährigen Flämin regelmäßig ins Gesicht fällt und mit derselben Eleganz und Würde, mit der sie ihr Instrument behandelt, ebenso regelmäßig ihren Weg zurück hinter das rechte Ohr findet.
Da passiert nichts, und zugleich passiert sehr viel. Das Klavier ist ein schlafendes Ungeheuer, das sich von der Pianistin anfangs nur leicht kitzeln lässt, bis es leise grollend erwacht und sich unter ihren fliegenden Fäusten in seiner ganzen Bedrohlichkeit zeigt. Die sichtlich gelangweilte Dame in der ersten Reihe hat, wenn sie nicht Erwartungen hätte, die diese improvisierte, ganz aus ihren Klangreizen lebende Musik gar nicht erfüllen will, also unrecht – und auf andere Weise doch wieder recht.
Am Rande der Stille
Denn so kunstvoll Marlies Debacker ihr Feld am Rande der Stille beackert, ist es in seinen historischen Möglichkeiten weitgehend ausgeschritten. Was John Cage Ende der 1930er Jahre mit seinen ersten Kompositionen für präpariertes Klavier an subtiler Magie schuf und ein Cluster-Kamikaze wie Cecil Taylor in den 1960er Jahren von der Seite des Jazz aus hinzufügte, innerhalb eines Stils, der letztlich so beschränkt ist wie jeder andere.
Der Ruf des Experimentellen, den sich das Jazzfest Berlin unter Nadin Deventers Leitung erarbeitet hat, indem es als konventionell geltende Idiome des Jazz fast vollständig ausschließt, lässt sich bei näherer Prüfung nicht immer aufrechterhalten: Er steht nur für andere Rituale. So hat etwa das frei improvisierenden Trio des Gitarristen Fred Frith mit der portugiesischen Trompeterin Susana Santos Silva und der brasilianischen Schlagzeugerin Maria Portugal Momente ungeheurer Dichte, zumal in den stilleren Passagen, aber auch dem Genre geschuldete Durststrecken.
Der Engländer Frith, mittlerweile 74 Jahre alt, ist ein Veteran der extended techniques auf der Gitarre. Noch immer arbeitet er sich mit der Schuhbürste oder einem vibrierenden Essstäbchen zwischen den Saiten durch die Gerätschaften auf seinem Beistelltisch wie andere durch ihre Licks und Skalen, nicht selten mit dem Instrument als Schoßgeige vor sich.
Geräusch und Hymne
Portugal tuscht sanfte Grooves zwischen die Klangschwaden, und Santos Silva spuckt zwischen Geräusch und hymnischen Aufschwüngen alles Mögliche dazwischen. Musikerinnen, die beide rund drei Jahrzehnte jünger sind als Frith, sich in diese weder alte noch junge, bestenfalls zeitlose Welt, aber glänzend einfügen.
Was heißt in diesem Zusammenhang überhaupt Geschichte? Die Genese freier Spielweisen lässt sich relativ genau beschreiben. Sie haben ihr Vokabular und ihre technischen Errungenschaften, aber auch jenen Willen zur Traditionsauslöschung, den eine Musik, die aus dem Moment heraus entsteht, vielleicht beanspruchen muss, ohne ihm je nachkommen zu können.
Irreversible Entanglements, eine der meistgehypten Bands der Stunde, lässt sich da einfacher verorten. Das fünfköpfige New Yorker Kollektiv greift auf das Free-Jazz-Ungestüm der sechziger und siebziger Jahre zurück, knüpft es aber an Stücke mit markanten Themen und paart es mit dem Spoken-Word-Zorn von Camae Ayewa alias Moor Mother.
Auf den Spuren von Amiri Baraka
Liebe und antirassistische Agitation – das findet hier in einem deklamatorischen Sperrfeuer zusammen, das zwar nicht an Amiri Barakas einstigen, in seinem schwarzen Nationalismus zeitweilig dubiosen Furor heranreicht, ihm aber einiges verdankt. Zu später Stunde auf der Seitenbühne, wo man eng beieinandersteht, entfaltet das noch einmal eine sehr viel höhere Intensität als auf der Hauptbühne im Haus der Berliner Festspiele.
Die souveränste Verbindung von freier Improvisation und nie abnehmender Spannung zeitigt am Sonntagabend dennoch das Trio des dieses Jahr mit dem Albert-Mangelsdorff-Preises der Deutschen Jazzunion ausgezeichneten Posaunisten Conny Bauer. Mit dem bewährten Gespann von Hamid Drake am Schlagzeug und William Parker am Kontrabass werfen sich hier drei einzigartige Musiker mit atemberaubender Geschwindigkeit die Bälle zu und fürchten keine Sekunde lang, von Traditionsresten erstickt zu werden.
Conny Bauer übt sich auch mit 80 Jahren noch virtuos in Flatterzunge und Mehrstimmigkeit, scheut aber auch keine bebophaften Floskeln. Bei William Parker flammt immer wieder ein rasanter Walking Bass auf, während Hamid Drake trotz Gleichberechtigung im Trio mit verschachtelten, schnell die Richtung wechselnden Rhythmen das Heft in der Hand hält. Da passiert etwas, ja da passiert viel zu viel, doch man muss über diese Musik gar nichts wissen, um sich von ihr anspringen zu lassen.
Orchestrales Vehikel
Mit 80 Jahren war Bauer nicht der Älteste. Der Methusalem ist mit 83 Jahren der Schlagzeuger Andrew Cyrille, der in Berlin einst schon in Cecil Taylors Band zu hören war, hier aber im Duo mit dem Tenorsaxofonisten Bill McHenry auftritt. Ein inzwischen dezidiert antivirtuoser Trommler aus dem Kreis der Chicagoer AACM-Avantgarde, der sogar erst einmal einige Stücke abwartet, bevor er die Becken einbezieht. Unwesentlich jünger mit 79 Jahren ist Henry Threadgill, gleichfalls ein alter AACM-Gefährte.
Mit seiner Auftragskomposition „Simply Existing Surface“ für seine eigene Band Zooid und Silke Eberhards Potsa Lotsa XL schuf er das komplexeste Vehikel des Jazzfests, das in den improvisatorischen Passagen aber zusehends in Schwung geriet und nicht zuletzt mit Soli des Klarinettisten Jürgen Kupke oder des Tenorsaxofonisten Patrick Braun für Begeisterung sorgte.
Was immer man von Nadin Deventers programmatischer Strenge hält: Man muss ihr lassen, dass sie einem großen Publikum Ensembles präsentiert, die man in Berlin sonst nicht kennt. Die französische Pianistin und Komponistin Eve Risser mag mit ihrem mit Djembes und Balafonen westafrikanisch wogenden Red Desert Orchestra nach ihrer Premiere mit dem White Desert Orchestra 2016 fast schon eine alte Bekannte sein.
Nach Mitternacht, kurz vor Weltende
Die schwedische Komponistin Ellen Arkbro, sonst eher in den Gefilden reiner Stimmungen und mitteltöniger Versuche unterwegs, war mit dem von ihr und dem Pianisten Johan Graden eher popmusikalisch angelegten Projekt „I get along without you very well“ eine Entdeckung. Acht auch als Album veröffentlichte Stücke von betäubender Langsamkeit. Songs, die mit ihrer hingehauchten Stimme wie durch Schlick waten. Musik für die Zeit weit nach Mitternacht, kurz vor Weltende.
Man könnte sich an Annette Peacocks schmerzliche Balladen erinnert fühlen oder an Radiohead. Für ein Kammerensemble durcharrangiert, gehört es mit seinen solistischen Einsprengseln und einem Schlagzeug, das hin und wieder gegen das allzu Schleppende aufbegehrt, allein der Konzentration wegen, die das Zuhören erfordert, auf ein solches Festival.