Bloß keine runden Sachen auszeichnen
Im Grunde kann man nach der diesjährigen Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse nur ein überschwängliches, hohes Lied auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur und ihre angeschlossenen Fachbereiche im Sachbuch und der Übersetzung anstimmen.
Was waren für diesen Preis in den drei Kategorien doch für großartige Bücher nominiert worden, von Stefan Mosters großartiger Übersetzung von Volter Kilpis vermutlich noch großartigerem, epochalen, 1933 veröffentlichten Prosa-Finnland-Epos „Im Saal von Alastalo. Eine Schilderung aus den Schären“ über das fast 900 Seiten zählende, ultimative Michelangelo-Buch von Horst Bredekamp bis hin zu Emine Sevgi Özdamars Lebensroman „Ein von Schatten begrenzter Raum“.
Und was musste es nicht alles für Diskussionen in der Jury gegeben haben, um an diesem gräulichen Frühlingstag in der Glashalle der Leipziger Messe (das erste Mal wieder seit 2019, allerdings vor lediglich knapp zweihundert geladen Gästen aus dem Betrieb, ohne Publikum, ohne das Messehintergrundrauschen, aber immerhin) die Favoriten nicht auszuwählen.
Anne Weber gewann schon 2020 den Deutschen Buchpreis
Eben nicht Emine Sevgi Özdamar beispielsweise, nicht Katerina Poladjan mit ihrem wunderbaren russischen Roman „Zukunftsmusik“, nicht Christiane Hoffmanns Buch „Alles was wir nicht erinnern“ über den Fluchtweg ihres Vaters 1945 aus Schlesien und die Sonderbarkeiten des Verhältnisses von Deutschen, Polen und Russen.
Nein, die Jury hat Entdeckungen gemacht. Sie versucht einem Publikum, das nach Preisen Kaufentscheidungen trifft, Autor:innen nahezubringen, die innerhalb des Literaturbetriebes bekannt sind, außerhalb davon kaum.
Anne Weber als Gewinnerin des Preises für Übersetzung mag da die einzige Ausnahme darstellen.
Weber hatte 2020 den Deutschen Buchpreis für ihr Buch „Annette, ein Heldinnenepos“ gewonnen, einer in Versform verfassten Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir (die übrigens Anfang März im Alter von 98 Jahren im bretonischen Quimper verstarb).
Doch Cécile Wajsbrots Roman „Nevermore” ist schon eine Klasse für sich. Anne Weber hat hier die kunstvolle Geschichte über eine Übersetzerin, die dabei ist, Virginia Woolfs „To the Lighthouse“ zu übersetzen, übersetzt.
Keine Literatur für Gelegenheitsleser
Im Sachbuch-Bereich fiel die Entscheidung auf Uljana Wolfs autobiografischen Essays-und-Reden-Band „Etymologischer Gossip“, den sich der Juror Andreas Platthaus auch in der Belletristik und der Übersetzung als Titelträger hätte vorstellen können, wie er in seiner Laudatio sagte.
Auch der zweiteilige Genre-Hopping-Roman „Eine runde Sache“ von Tomer Gardi ist ein Hybrid: Der eine Teil erzählt in einer gebrochenen deutschen Kunstsprache davon, wie ein jüdischer Autor durch einen deutschen Wald gejagt wird. Der andere, weitaus konventionellere, auf hebräisch geschriebene, von Anne Birkenhauer übersetzte handelt vom Leben des indonesischen Malers Raden Saleh und wie es diesen im 19. Jahrhundert von Java durch Europa und wieder zurück nach Asien verschlägt.
Die Literatur, die also dieses Jahr ausgezeichnet wurde, ist eine sicher lesenswerte, aber auch hochgradig verfeinerte, metafiktionale. Sie wurde gezielt an einem Publikum vorbei ausgewählt, das nur gelegentlich zu literarischen Texten greift. Womöglich ist der Preis der Leipziger Buchmesse inzwischen wirklich größer als die Autor:innen und Bücher, die hier nominiert werden. Letzteren wäre es zu wünschen.