Ché Guevaras Sohn im Interview: „Es gibt keine Zivilgesellschaft in Kuba“
Herr López, Ihr Vater wird in Kuba als revolutionärer Held und Märtyrer verehrt. Fidel Castro nannte ihn sogar einen Propheten. Che Guevara ist das größte Denkmal des Landes in Santa Clara gewidmet. Mit welchen Augen sehen Sie ihn im Rückblick und was könnte man als sein Erbe bezeichnen?
Was mich heute an ihm als Individuum fasziniert, ist seine Einstellung, mit der er die Wirklichkeit erforschte und verändern wollte. Auch nach 1961, als ein neuer Dogmatismus in der Kulturpolitik eingesetzt hatte, blieb er noch mit vielen linken Intellektuellen und Schriftstellern im Gespräch, die damals bereits als Abweichler galten. Doch das Erbe solcher Ausnahmeerscheinungen, wie mein Vater es war, findet sich weder in Bibliotheken oder Museen und noch viel weniger in Gedenkstätten.
In diesem Jahr haben rund eine Viertelmillion zumeist junge Kubaner und Kubanerinnen ihre Heimat verlassen, größtenteils in Richtung USA. Die kubanische Kunst- und Kulturszene scheint zu erodieren. Was hält Sie noch in Kuba?
Viele 20-Jährige hier orientieren sich ausschließlich an den USA und wandern aus materiellen Gründen aus. Als wäre Kuba das einzige Land in der Welt, das wirtschaftliche Probleme hätte. Doch wie wollen wir unsere Heimat bewahren, wenn alle jungen Menschen auswandern? Wir Kubaner sollten nicht immer darauf warten, dass andere etwas für uns tun. Zum Beispiel , dass Präsident Biden das US-Embargo gegen unsere Insel aufhebt, das uns seit 62 Jahren die Luft abschnürt, oder dass uns jetzt die Russen und Chinesen aus der Patsche helfen.
Hat sich bei vielen, die jetzt emigrieren, in den letzten Jahren nicht auch ein großer Frust darüber aufgebaut, dass die Entwicklung der Zivilgesellschaft auf Kuba staatlicherseits so wenig gefördert und regelmäßig ausgebremst wird?
Es gibt keine Zivilgesellschaft in Kuba. Es gibt nur die Regierung und das Volk, aber keine Gewaltenteilung und keine unabhängige Justiz. Diese sind für die Entwicklung einer funktionierenden Zivilgesellschaft aber notwendig. Hier dagegen unterstehen die Gerichte direkt dem Staat und es gibt keine freie Rechtsprechung.
Welche Rolle spielen die Kultur und die Poesie in einer Gegenwart, die von stundenlangen Stromausfällen und täglichem Schlangenstehen vor Ämtern, Geschäften und Tankstellen geprägt ist?
Junge Kubanerinnen und Kubaner lesen fast ausschließlich ihr Smartphone. Ältere Menschen schauen noch ab und zu in die Parteizeitung „Granma“. Nicht wegen ihrer journalistischen Qualität, sondern weil es keine Konkurrenz zu ihr gibt. Unter Poesie verstehen viele nur eine literarische Gattung, die sich in Büchern oder öffentlichen Lesungen ausdrückt. Für diejenigen, die wie ich Gedichte mündlich vortragen, improvisieren und inszenieren, stellt Poesie eine Entwicklungsphase des Bewusstseins dar, nicht nur des menschlichen, sondern auch anderer Formen der Intelligenz. In diesem Sinn ist der Big Bang des Universums reine Poesie genauso wie der Ursprung unserer Sprache und die Entwicklung unserer Kultur.
In welchem Zustand befindet sich die kubanische Literatur, die immer zu einer der wichtigsten in Lateinamerika zählte? Der im Ausland am meisten gelesene Autor Leonardo Padura lässt seine Bücher mittlerweile in Spanien verlegen, die für die meisten kubanischen Leser zu teuer sind.
Genauso gibt es heute auf Kuba keine nennenswerte abstrakte Kunst mehr. Das liegt aber nicht nur am Staat, sondern auch an den Kulturschaffenden selbst, die sich am globalisierten Kunstmarkt und Verlagswesen orientieren. Früher reisten Künstler wie Wilfredo Lam nach Paris und New York, um zu lernen. Heute ziehen kubanische Künstler vor allem ins Ausland, um dort besser zu verkaufen.
Welche Rolle spielt Literatur heute in kubanischen Schulen?
In kubanischen Schulen steht Literatur zwar auf dem Lehrplan, vor allem die unseres Nationalhelden José Martí, aber unser Schulsystem ist nicht in der Lage, ihren Sinn zu vermitteln. Dazu müsste man es von Grund auf verändern. Literatur, vor allem Poesie beginnt ja dort, wo vermeintliche Gewissheiten hinterfragt werden. Sie ist das Gegenteil von Propaganda.
Sie haben aus dem Englischen, Holländischen und Italienischen übersetzt zum Beispiel Shakespeare und Pasolini. Jetzt lernen Sie Deutsch. Was interessiert Sie besonders an Deutschland und seiner Kultur?
Da frage ich zuerst einmal zurück: Was definiert die deutsche Kultur? Ein Territorium, die Sprache oder ein bestimmter Geist, wie Hegel meinte? Im Rahmen meiner dichterischen Forschung habe ich mich intensiv mit deutschen Philosophen wie Martin Heidegger und der Frankfurter Schule beschäftigt. Dabei war ich leider auf Übersetzungen angewiesen, deren Qualität ich nicht einschätzen kann. Jetzt möchte ich den Klang der deutschen Sprache und die Gedanken ihrer Philosophen im Original kennenlernen.
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