Von Hollywood vergessen: Die Wiederentdeckung von Joan Micklin Silver

Mit „In Amerika …“ fangen die Sätze in Joan Micklin Silvers Tragikomödie „Hester Street“ häufig an. Was folgt, ist nicht etwa die Klage über die Verhältnisse oder eine Belehrung von Seiten der Mehrheitsgesellschaft, sondern eine Distinktionsgeste innerhalb der Community. Wer so spricht, will auf den eigenen Assimilierungserfolg hinweisen, sich abgrenzen gegen all jene, die die Zeichen ihres alten „jiddischen“ Lebens noch immer sichtbar mit sich herumtragen.

„In Amerika …“ soll dann zum Beispiel erklären, warum ein armer Tropf aus Litauen nun der Boss eines kleinen Betriebs ist, während der Thora-Gelehrte an der Nähmaschine malochen muss. Geradezu rituell fällt der Satz in den Gesprächen des russisch-jüdischen Immigranten „Jake“ (Yankel) Podkovnik mit seiner Ehefrau Gitl, die mit dem gemeinsamen Sohn Yossele gerade erst in New York angekommen ist. Noch am ersten Tag schneidet Jake dem Jungen die verräterischen Locken ab und präsentiert ihn im Viertel der Hester Street als Joey.

Seine orthodoxe Frau kann er jedoch auch mit Liebesentzug nicht dazu bringen, die Perücke abzulegen. Als Jake begreift, dass sich Gitl nicht nach seinen Vorstellungen amerikanisieren lässt, wendet er sich ab und versucht sein Glück an der Seite einer musterhaft assimilierten Polin. Gitl, gespielt von der großartigen Carol Kane, die mit ihrer Rolle für einen Oscar nominiert wurde, emanzipiert sich nach der Zurückweisung zur selbständigen Geschäftsfrau, die ihrer kulturellen Identität dennoch treu bleibt.

Als Film über die Erfahrungen jüdischer Einwander:innen in der Lower East Side zu Ende des 19. Jahrhunderts ist „Hester Street“ aus dem Jahr 1975 ein Solitär. Die vor drei Jahren verstorbene Joan Micklin Silver, selbst Tochter eingewanderter jüdischer Russen, gehörte nicht nur zu den wenigen Regisseurinnen, die sich in den 1970er Jahren im US-Kino behaupten konnten. Auch die Entscheidung, ihr Debüt in Schwarzweiß und überwiegend auf Jiddisch mit englischen Untertiteln zu drehen, macht den Film bis heute zu einem Ausnahmewerk.

„Hester Street“ war das Ergebnis eingehender Recherchen, die die SIlver für eine Reihe von Lehrfilmen zum Thema Immigration gemacht hatte. Als Vorlage diente die Novelle „A Tale of the New York Ghetto“ von Abraham Cahan und die sozialdokumentarischen Fotografien der Lower East Side (etwa von Jacob Riis).

„Zu ethnisch“ war ein Vorwurf, den sich Silver in ihrer Laufbahn neben den üblichen chauvinistischen Äußerungen öfter zu hören bekam, die Finanzierung übernahm schließlich ihr Mann, ein New Yorker Immobilienentwickler. Am Ende spielte „Hester Street“ das 14-fache seiner Produktionskosten ein – was an den Schwierigkeiten, zukünftige Projekte zu realisieren, jedoch nichts änderte.

Zwei Preise auf der Berlinale

Nachdem Joan Micklin Silver vor zwei Jahren im Rahmen des Berliner Filmfestivals „Unknown Pleasures“ bereits mit einer Hommage geehrt wurde, haben „Hester Street“ und „Between the Lines“, der 1977 auf der Berlinale lief und zwei Preise erhielt, nun einen Platz beim Arthouse-Streamingdienst Mubi gefunden. Auch wenn die Filme visuell und thematisch, in Rhythmus und Tonfall wenig gemein haben, hält sie doch die Frage zusammen, was man für die eigene Überzeugung aufzugeben bereit ist.

Als Zeitbild historisch genau an damalige Lebenswirklichkeiten angelehnt, lässt „Hester Street“ mit seinen Ausflügen in die lyrische Atmosphäre des Stummfilms einen filmischen Naturalismus aber auch immer wieder hinter sich.

Wuselig und voll mit blitzschnellen Wortgefechten ist dagegen die Komödie „Between the Lines“, ein Ensemblestück rund um eine politisch progressive Zeitung in Boston, die von einer Übernahme bedroht ist. Großen Spaß machen nicht nur die überspannten Auftritte des jungen Jeff Goldblum als schnorrendem Musikkritiker, sondern auch die rumpelige Ausstattung der im Keller gelegenen Redaktionsräume.

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