Die Meisterswinger von Berlin
Natürlich ist die Vorstellung, die am gestrigen Freitagabend nach mehreren Anläufen endlich Premiere hatte, auf Wochen ausverkauft. Das Stück geht immer. Es gilt als unzerstörbar, darin den Wagner-Opern nicht unähnlich. Und wenn der Spielort auch noch das Berliner Ensemble ist – hier war 1928 die Uraufführung, damals Theater am Schiffbauerdamm – und der Regisseur Barrie Kosky heißt, dann geht es kaum größer. Für den Meisterswinger von der Komischen Oper gab es auch nie einen Unterschied zwischen hoher Kunst und Unterhaltung.
Die „Dreigroschenoper“ ist ein Fass ohne Boden. Ein ganzes Jahrhundert passt hinein. Zwanzigerjahre, Berlin, Kapitalismuskritik, Bertolt Brechts und Kurt Weills Biografien, Politisierung und Exil, Episches Theater und Broadway, Jazz und Operette.
Um die „Dreigroschenoper“ dreht sich ein früher Metoo-Fall: Es war lange nicht üblich, den Namen Elisabeth Hauptmann im Programm zu nennen. Sie gehört nun anerkannt dazu.
Hauptmanns Rolle bei der Neufassung der „Beggar’s Opera“ von John Gay aus dem Jahr 1728 war keine geringe.
Und auch das gehört zum Mythos: So viele Hände waren seinerzeit bei der Entstehung im Spiel, es herrschte filmreifes Chaos im Theater, und dann wurde es ein überwältigender Erfolg. Ein Welterfolg. Das Thema der „Dreigroschenoper“ ist schließlich das Theater. „Das Theater als Geschäft“, wie ein Buch des Schriftstellers, Anwalts und Bühnenunternehmers Max Epstein heißt. Er war in der Dreigroschen-Zeit eine gesellschaftliche Größe in Berlin.
Tempo und Hauptstadtfeeling
Barrie Kosky setzt auf eine junge Truppe. Und er macht Tempo. Man spürt es sogleich, wenn Adam Benzwi den Motor im Orchestergraben anwirft mit seinen sechs Musikerinnen und Musikern. Oben auf einem Glitzervorhang geht der Mond über Soho auf: Josefine Platt mit der „Moritat von Mackie Messer“. Und da schwingt schon ein Augenzwinkern mit. Kosky ironisiert den Klassiker.
Robert Wilson, der mit seiner „Dreigroschenoper“ 2007 am BE einen Triumph feierte – die Inszenierung lief viele Jahre lang –, hatte das Schauerstück ästhetisiert. Wilson erzählte ein feines Märchen aus uralten Zeiten, mit Stummfilmeinflüssen. Er schickte Angela Winkler, Jürgen Holtz, Stefan Kurt und Walter Schmidinger (als reitenden Boten) auf die Bühne. Es war ein Fest der Erinnerungen.
Jetzt geht eine leicht schäbige Party ab, das passt zur Stadt und zur Stimmung. So ganz geheuer aber ist einem der voll besetzte Zuschauerraum nicht. Die Theatersaison hat früh begonnen, mitten im Sommer, hoffentlich endet sie nicht bald schon wieder.
Auch diese Produktion hat Corona-Wartezeit hinter sich. Kultursenator Klaus Lederer trägt das T-Shirt „Impfen hilft auch der Kultur“. Nie konnte man ihm klarer zustimmen. Es tut gut, mal wieder Szenenapplaus zu hören.
Keine Frage, diese „Dreigroschenoper“ wird ein Erfolg. Sie ist nach allen Richtungen offen und kompatibel. Sie könnte überall spielen. Zeitlos ist ein blödes Wort, aber Dinah Ehms Kostüme wirken großstädtisch, freie Wahl, freier Stil, zieh an, was dir gefällt, ob Anzug oder Tüllkleid oder Hose und Pullover, lässig.
Nico Holonics ist ein Haifisch mit Milchzähnen
Der Bühnenaufbau von Rebecca Ringst stellt Ansprüche. Ein abendfüllendes Klettergerüst, eine riesige Regalwand – da muss man als Akteur schwindelfrei sein und sehr gelenkig. Da steigen und stellen sie einander nach, und solche Kletterübungen nehmen dann auch manchmal das Tempo heraus.
Für die Songs macht sich dieses Ausgestelltsein in der Höhe gut. Und da liegt die Qualität des Abends: eine „Dreigroschenoper“ von starker Musikalität. Barrie Kosky hat ein Musical inszeniert. Es ist schon auch wichtig, was zwischen den Gesangsnummern passiert. Aber wichtiger ist, dass die Hits zünden. Das funktioniert. In der „Dreigroschenoper“ jagt ein Evergreen den nächsten. „Ja, mach nur einen Plan“. Wer würde nicht darauf warten!
[Wenn Sie die wichtigsten Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Und der Haifisch? Nico Holonics hat noch ein paar Milchzähne. Ein netter Allerweltstyp, der auf böse macht. Eigentlich ein Fall für Schwiegermütter. Aber Celia Peachum hat bessere Ideen für ihre Tochter: Constanze Becker, das kann man nicht anders sagen, spielt alle an die Wand. Sie klettert auch nicht so viel herum. Mit einem Augenaufschlag, einem Zungenschnalzen, einem blutroten Kuss tötet sie. Eine Rachegöttin, wie sie sich die symbolistischen Maler vorstellten.
Unter dem mondänen Pelzmantel trägt sie wenig. Macheath lehrt sie das Fürchten, und ihr biederer Mann, der Bettler-Chef Peachum, weicht ihr auch lieber aus. Tilo Nest wirkt wie ein in die Jahre gekommener Mackie Messer, ein fast anständiger Mittelständler.
Die Frauen übernehmen das Kommando
Es ist die Vorstellung der Frauen. Cynthia Micas spielt eine selbstbewusste, schicke Polly. Wie es aussieht, nimmt sie sich Macheath, nicht umgekehrt. Als es mit ihm zu Ende zu gehen scheint und der Galgen wartet, schreitet sie erhobenen Hauptes davon. In den Klamauk rutscht die Eifersuchtsszene mit der kreischend komischen Lucy von Laura Balzer. Aber das verträgt das Stück, es hat seine Jahresringe.
Die Frauen übernehmen das Kommando, die Männer kommen aus der Schieflage nicht mehr heraus. Den mächtigsten Kerl im Stück hat Barrie Kosky mit einer Schauspielerin besetzt. Kathrin Wehlisch als oberkorrupter Polizeichef Tiger Brown: Charlie Chaplin schaut aus ihren Augen, der Tramp wackelt über die Bühne. Den „Kanonen-Song“ mit Macheath bringt sie mit akrobatischer Leichtigkeit. Locker wird hier verhandelt um Leben und Tod, Liebesverrat ist ein Handumdrehen, Moral kaum mehr als ein Wort; vielleicht war es von Anfang an so.
Barrie Kosky wirft Ballast ab, sein Brecht/Weill ist reines Entertainment. Er erlaubt sich einige Witzchen und geflüsterte Zugaben (Michael Müller statt Mackie Messer), gestrichen oder kaum vernehmbar der berühmte Satz von der Gründung einer Bank und dem Bankeinbruch.
Ein Abend, von Sorgen befreit
Fehlt etwas? Man sehnt sich dann doch nach Klarheit und Schärfe. Dass es nicht immer so heiter und weiter geht. Constanze Becker kann die Show anhalten, und Bettina Hoppe als Spelunken-Jenny schafft es auch. Dass man anders hinschaut und hört. Dass es zwar zum Prostitutionsgeschäft gehört, für alles Geld zu nehmen. Dass es aber auch die Seele hart macht, wenn das Leben so läuft. Macheath kommt aus dem Staunen nicht heraus. Ja, da kannste was lernen, wie er selbst sagt. Jennys Ruhe in den Schmerzmomenten muss man bewundern. Dafür hat Brecht diese Texte geschrieben.
Das ist sie, die neue „Dreigroschenoper“. So schnell wird es in Berlin keine andere geben. Koskys Version wirkt von Sorgen und Ansagen befreit. Das parodistische Ende nimmt er fast für bare Münze.
Eben noch am Strick erstickt, reißt Macheath die Arme hoch. „Gerettet, gerettet!“ Als wäre nichts gewesen. Der Jubel bricht los, angefeuert von vereinzelten Buhrufen, die schnell verstummen. Der Abend ist noch warm, wann gab es zuletzt eine Premierenfeier mit so vielen Menschen? Die Premiere fühlte sich an wie ein schöner Tanz. Das Vulkanische darunter wurde mal vergessen.