Scherben im Sinkflug
In Berlin, am Deutschen Theater, hat die neue Spielzeit begonnen und eine erste Erkenntnis hervorgebracht: Es geht nicht gut, wenn die Chefin in der Edelstahlküche auf den Hausangestellten trifft!
Immerhin ist schwer was los zwischen Spüle und Frühstückstresen: Extrawild wird an Hemdknöpfen und Kleiderverschlüssen herumgefingert. Man schmeißt sich selbst in laszive Posen und das Objekt seiner Kurzzeit-Begierde wechselweise gegen den Kühlschrank oder auf die Fliesen. Außerdem wird am dramatischen Höhepunkt ein Haustier im Smoothiemaker geschreddert und bei alledem immer wieder eine Form von Komik produziert, die der Regisseur Timofej Kuljabin sicher nicht im Sinn hatte, als er sich August Strindbergs „Fräulein Julie“ zur Verzeitgeistung vornahm.
Das 1889 uraufgeführte Stück um die höhere Tochter, die gleichermaßen Milieu- wie Geschlechterrollenkonventionen sprengt, und den klassisch-verbissen nach oben strebenden Diener Jean könne man heute so nicht mehr erzählen, erklärt Kuljabin im Programmheft.
Klar: Das Strindberg’sche Geflecht aus Klassimus und Sexismus stattdessen unter Gegenwartsbedingungen zu analysieren, darf in Zeiten, in denen beide Themen weit oben auf der gesellschaftlichen Agenda stehen, als durchaus sachdienliche Inszenierungsidee gelten.
Umso mehr überrascht dann im künstlerischen Praxisvollzug die Tatsache, dass Kuljabin zwar mit Aktualitätsbehauptungen und Gegenwartssignalen ähnlich exzessiv um sich wirft wie die Bühnenakteure zwischenzeitlich mit Küchenutensilien, dabei aber das Kunststück schafft, ein Drama zu erzählen, das noch nicht einmal einfach alt, sondern schlichtweg gegenstandslos wirkt (Weitere Aufführungen am 29. August, 20 Uhr und am 30. August, 20.30 Uhr).
Das unausgegorene Psychogramm, das Strindberg seiner Protagonistin Julie unterschiebt und das sich heute eher liest, als hätte man es mit einem bräsig in die Jahre gekommenen Comedystoff zu tun, gehörte jedenfalls sichtlich nicht zu den primären Gegenständen der Aktualitätsforschung.
Die verkorkste Mutter ist schuld
Linn Reusse ist wirklich nicht zu beneiden in ihrer Tussi-aus-reichem-Haus- Rolle, die zwischen zickigen Ansagen und albernen Verführungsspielchen immer mal wieder melodramatisch hervorbarmen muss, wie sehr sie alle Männer hasst und wie wenig sie selbst dafür kann. (Spoiler: Die verkorkste Mutter ist schuld.) Reusse macht das wirklich mit bemerkenswerter Würde und maximaler Peinlichkeitsvermeidung.
Auch ihren Spielpartner, Felix Goeser als Jean, trifft es hart. Als Gegenwartssetting hat sich Kuljabin zusammen mit Koautor Roman Dolzhanskij nämlich einen schmutzigen kleinen Social-Media-Rahmenplot überlegt. Julie hatte ihren Ex-Verlobten einst – nun ja – zum Geschlechtsverkehr mit einer Sexpuppe gezwungen, das Ganze heimlich gefilmt und ins Netz gestellt.
Dafür rächt sich der Verlobte jetzt, indem er Jean gegen Geld anheuert, eine Kamera in der Küche zu installieren und Julie ihrerseits zu kompromittierenden Szenen zu treiben, die anschließend ebenfalls vertwittert und veryoutubt werden sollen. Deshalb sitzt der Rächer, der bei Strindberg gar nicht selbst auftritt, bei Kuljabin abendfüllend mit Hipster-Wollmütze als Thomas (Bozidar Kocevski) in der oberen Etage von Oleg Golovkos Doppelstockbühne und souffliert dem Hausdiener vor einem Bildschirm den Verführungsplot.
Goeser als Jean muss dabei rätselhafterweise so tun, als hätte er praktisch noch nie das Wort Videotechnik gehört – ein sehr merkwürdiges Bild eines Hausangestellten im 21. Jahrhundert. Auch Goeser spielt das mit maximaler Souveränität – wie Franziska Machens als Jeans Kollegin und „sozusagen Verlobte“ Christine, der die Verwunderung über das bizarre Küchendrama, das sich da vor ihren Augen abspielt, verständlicherweise immer wieder ins Gesicht geschrieben steht.