Für Shorttrackerin Anna Seidel geht bei Olympia wieder alles schief

Sie hatte nur einen großen Wunsch. „Ich möchte zeigen, was ich kann“, sagte Anna Seidel vor ihrem ersten und einzigen olympischen Auftritt in Peking. Im Fall der Shorttrackerin aus Dresden bedeutet das: Bitte nicht wieder stürzen und, das schiebt sie im Laufe des Gesprächs vor knapp einer Woche nach, nicht schon in der ersten Runde ausscheiden.

Weder das eine noch das andere erfüllt sich am Mittwochabend Ortszeit im Capital Indoor Stadium, wo Seidel ihre dritten Olympischen Spiele genießen will. Der Auftritt wird zum Albtraum für sie, im Vorrundenlauf über die 1500 Meter kommt für sie alles Schlechte zusammen.

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Vier Runden vor Schluss stürzt die 23-Jährige, rappelt sich aber nach einem Schreckmoment wieder auf. Als sie das Ziel erreicht, gibt es sogar vereinzelt Beifall angesichts von so viel Sportsgeist. Ausgeschieden ist Seidel trotzdem – und danach untröstlich. „Ich habe mich sehr gut gefühlt, im Training schon und auch heute beim Warm up“, sagt sie mit brüchiger Stimme, die zunächst mit jedem Wort fester wird, als sie ihren Lauf beschreibt.

Gut habe der begonnen, und tatsächlich hält sich Seidel in der Rundenhatz auf dem Eis in vorderer Position auf. Die ersten drei Läuferinnen erreichen das Halbfinale, und das ist auch ihr Mindestziel. Nach anderthalb Minuten aber ist plötzlich alles vorbei, unsanft landet Seidel auf dem Hosenboden, rutscht übers Eis und kracht in die Bande. Das sieht schlimmer aus, als es ist. Körperlich, sagt sie, sei alles okay und das Tempo ja noch nicht so hoch gewesen.

Psychisch aber bricht eine Welt zusammen. Das wird jetzt noch offensichtlicher, und das ist bei ihrer Vorgeschichte wenig verwunderlich. Nach einem Schien- und Wadenbeinbruch im März vergangenen Jahres hatte sich Seidel unter Schmerzen zurückgekämpft. Schon 2014 war sie bei den Spielen in Sotschi dabei und 2018 auch in Pyeongchang, wo sie zweimal stürzte. Und auch diesmal schaffte sie es – als einzige deutsche Shorttrackerin, trotz nur halb erfüllter Norm. Und nun das!

„Es ging mir schon besser“

Die im Shorttrack immer berechtigte Hoffnung, dass einem Sturz der Regelverstoß einer anderen Läuferin vorausgegangen sein könnte, ist diesmal nur vage und entpuppt sich wenig später ohnehin als irrelevant. Seidel selbst erhält vom Schiedsrichter eine Penalty-Strafe. Das heißt: Disqualifikation – für einen regelwidrigen Überholvorgang eine halbe Runde zuvor. „Ich war wahrscheinlich schon wieder zu aufgeregt, habe einen Überholvorgang nicht sauber genug vorbereitet, und dafür habe ich dann einen Penalty bekommen“, erklärt sie.

Dieser Umstand trifft sie offensichtlich noch härter als das Aus an sich, denn damit ist Seidel gewissermaßen selbst schuld. „Ich kann das noch nicht so richtig begreifen und möchte am liebsten noch mal neu aufstehen und noch mal neu laufen.“ Dann bricht sie in Tränen aus. „Es ging mir schon besser“, sagt Seidel nach kurzer Pause und wirkt einigermaßen gefasst.

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Allgemeine Fragen zum Zustand des Shorttracks in Deutschland zum Beispiel erübrigen sich jetzt ebenfalls wie die nach ihrer persönlichen Zukunft. Vor den Spielen hatte Seidel schon mal vom Karriereende gesprochen. Was sie aus dem Sturz lernen möchte, weiß die Dresdnerin indes schon genau. „Ich muss ganz einfach schauen, dass ich bei solchen großen Wettkämpfen irgendwie entspannter bleibe und mir das ganze Drumherum nicht so zu Herzen nehme“, sagt Seidel, und sie hat auch schon eine grobe Idee, wie das noch in dieser Saison gelingen könnte: „Bei der WM ist ja dann wieder weniger mediales Interesse da, sodass es mir dann wieder ein bisschen einfacher fallen wird.“

Tatsächlich ist die Betreuungsquote, wenn man das so nennen will, bei Seidel unübertroffen. Acht Journalisten stehen um die eher zierliche junge Frau, die in der großen Interviewzone nur noch kleiner und verlorener wirkt. Einsam, erzählt sie schließlich noch, sei sie als einzige deutsche Shorttrackerin nicht gewesen. Sie kenne ja die Eisschnellläufer gut und auch viele andere Sportler. „Also ich war nicht allein in meinem Zimmer”, sagt sie – und lacht dabei sogar kurz.