Dorfjunge, Topstar und Hoffnungsträger
Mathias Gidsel wirkt wie der Junge von nebenan. Das leicht verwuschelte blonde Haar, die trotz der 1,90 Meter Größe für einen Handballer eher schmächtige Figur und das immerwährende Lächeln lassen auf den ersten Blick nicht erahnen, was für ein Topstar die Neuverpflichtung der Füchse Berlin ist. Und auch wenn der Handballer über seinen Werdegang spricht, fallen nicht die Superlative wie sie von Sportfans und Kritikern gerne benutzt werden, sondern nur bodenständige Beschreibungen seiner selbst.
„Meine Familie ist da nicht so enthusiastisch. Da wird nicht so viel gelobt“, erklärt er seine Zurückhaltung. Gelobt wird dafür von den Sportgazetten und den internationalen Verbänden. Denn nicht nur, dass Gidsel in den vergangenen zwei Jahren mit Dänemark Weltmeister, Olympia-Zweiter und Bronzegewinner bei der Europameisterschaft wurde, er spielte sich in seiner erst kurzen Zeit bei der Nationalmannschaft jedes Mal bei den Großturnieren in das All-Star-Team und wurde bei den Spielen in Tokio sogar zum wertvollsten Spieler gewählt.
„Das war so etwas wie eine Weltraumerfahrung“, sagt der Rückraumrechte und macht dabei den Eindruck, dass er seine eigene Entwicklung selbst noch nicht so ganz fassen kann. „Ich weiß gar nicht, was da passiert ist. Erst wurde ich nachnominiert und habe im Training die Torhüter warm geworfen und auf einmal ging diese Reise los und ich bekam all diese Auszeichnungen. Das ist unbeschreiblich.“ Idole wie Welthandballer Mikkel Hansen, denen er zuvor noch nachgeeifert hat, waren auf einmal seine Teamkameraden – das hatte sich der „Junge vom Dorf“, wie Gidsel sich oft beschreibt, nie vorzustellen gewagt.
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Dabei war sein Leben schon früh auf Handball ausgerichtet. Im Handball-Dorf Skjern aufgewachsen, unternahm Gidsel früh seine ersten Versuche mit dem Ball in der Hand und zog schließlich bereits mit 15 Jahren zu Hause aus, um aufs Internat zu gehen und für die Jugendabteilung von GOG Gudme aufzulaufen. Von da an ging es nur noch nach oben, Gidsel entwickelte sich zu einem der umworbensten Spieler überhaupt.
Seine acht Jahre auf den Fünen krönte er in seiner letzten Saison mit der Meisterschaft, selbst ein im Januar bei der EM zugezogener Kreuzbandriss konnte ihn davon nicht abhalten. In nur vier Monaten kämpfte sich das Ausnahmetalent zurück und wurde zum entscheidenden Faktor im Kampf um den Titel. „Er hat den Mut, Entscheidungen zu treffen. Er hat die Geschwindigkeit und das technische Verständnis. Deswegen konnte er schon in seinem jungen Alter überzeugen“, sagt sein ehemaliger Trainer Nicolej Krickau, der Gidsel seinerzeit mit 18 aus der Jugend zu den Profis geholt hatte.
Was den Rückraumrechten ausmacht ist dabei zum einen seine überaus geringe Fehlerzahl und zum anderen eine enorme Wurfeffizienz. Zudem strahlt Gidsel auf dem Feld einen fast unbändigen Willen aus, zieht selbst noch zum Tor, wenn er von mehreren Gegenspielern attackiert wird. Anders als viele andere junge Spielern besticht der Däne dabei durch eine Konstanz in seinen Leistungen, wirkt stets fokussiert und ist schwer aus der Ruhe zu bringen. Eigenschaften, die sich Gidsel über die Jahre – auch mithilfe eines Mentalcoaches – antrainiert hat. „Natürlich ist das nicht immer einfach. Aber am Ende geht es immer ums Handballspielen. Nicht um die Fans, nicht um die Medien. Und darauf versuche ich mich zu konzentrieren“, sagt Gidsel.
Mit dem sportlichen Erfolg geht für den 23-Jährigen aber ebenso eine gewisse Verantwortung einher. Während seiner Rehabilitation besuchte er ein Krankenhaus der „Legeheltene“, ein Programm, das kranken Kindern auf unterschiedlichen Wegen helfen möchte, ihnen das Leben etwas zu erleichtern. „Der Besuch dort hat mir die Augen geöffnet“, sagt Gidsel, dessen derzeitige Knieprobleme sich deshalb schnell relativieren. „Ich finde es immer noch etwas komisch, dass Menschen zu mir aufblicken. Aber so ist es nun mal und damit möchte ich etwas machen.“ Zwar ist er nicht so von sich eingenommen, dass er meint, die Welt ändern zu können – dafür seien Staatsoberhäupter da – doch jedes bisschen Ablenkung, jedes Lächeln, das er jemandem ins Gesicht zaubern könne, sei den Einsatz wert.
Gidsel ist erst 23 Jahre alt und hat mit Dänemark schon so viel gewonnen
Deshalb arbeitet er gerade an einem eigenen Projekt, das Menschen durch Handball miteinander verbinden soll. Zuviel möchte er zwar noch nicht verraten, jedoch sei es ihm wichtig, eine Initiative aufzubauen, die zwar in Dänemark heimisch ist, aber über die Ländergrenzen hinaus fungiert. „Probleme gibt es schließlich überall. Und wenn man die Möglichkeit hat, zu inspirieren und zu helfen, dann sollte man das machen. Ansonsten hat man seine Bestimmung verfehlt“, sagt Gidsel. „Ich bin kein Star, der nicht mehr weiß, wie er mit anderen reden soll. Ich bin immer noch ich, einfach Mathias und immer noch der Junge, der es liebt, Handball zu spielen und Leute zum Lachen zu bringen.“
Wenn Gidsel von seinen Ideen erzählt, wird schnell klar, warum sein neuer Vorstand Sport Stefan Kretzschmar ihn unter anderem mit der Beschreibung „das Herz am richtigen Fleck“ charakterisierte. Doch das war selbstredend nicht der einzige Aspekt, warum die Füchse Gidsel nach Berlin holen wollten. Gidsel steht für Titel und für Kontinuität, für Dinge, die Kretzschmar und Co. auf Dauer anstreben. Vor allem ist Gidsel ein Spieler, der trotz seines jungen Alters Verantwortung übernehmen kann und will. Einer der den großen Vereinen eine Absage erteilt hat und sich lieber etwas erarbeitet.
Bodenständig eben, aber doch so viel mehr als einfach der Junge von nebenan.