Ende eines Tabus: Zweifelhafte Kinderkuren
An die frische Luft sollten die Kinder. Zu Kräften kommen, mal raus aus der Stadt. „Gebt sie doch für ein paar Wochen in ein schönes Heim“, war der Rat an die Eltern. So konnten Eltern sich auch mal Ferien ohne lästiges Kindergeschrei gönnen. Sechs bis zehn Millionen Kinder wurden in der Bundesrepublik ab den 1950er Jahren bis in die 1980er Jahre unbegleitet und über Wochen in solche Kurferien geschickt. Die Kleinsten waren noch Säuglinge. Für die staatlichen, kirchlichen und privaten Träger war der Heimtourismus ein Milliardengeschäft.
Auf die Kinder wartete oft eine schwer traumatisierende Erfahrung. In den Anstalten im Schwarzwald, im Harz, auf Nordseeinseln herrschten teils harsche Regime. Hunderttausende wurden traumatisiert durch Gewalt, Einschüchterung und Todesängste. Lange blieb all das Tabu. Den Kindern glaubte fast niemand. Beschwerden von Eltern versandeten.
Angestoßen hat die Forschung dazu die Publizistin Anja Röhl, die selber als Kind verschickt worden war. Sie publizierte Erlebnisberichte auf ihrer Website, worauf sich Tausende mit ähnlichen Erfahrungen meldeten. Sie waren gezwungen worden, ihr Erbrochenes zu essen, durften nur nach Plan Toiletten besuchen, mussten stundenlang schweigen, erhaltene Post kontrollieren lassen. Sie wurden drangsaliert, bloßgestellt, geschlagen, beschimpft. Röhl liegt die Aussage einer Frau vor, der Erzieherinnen in einem Keller gedroht hatten, sie in einen lodernden Ofen zu werfen.
Teils eröffneten Heime in früheren NS-Einrichtungen, teils kam von dort auch das Personal. Röhl regte eine bundesweite Initiative zur Aufarbeitung an, und jetzt ist eine erste wissenschaftliche Arbeit zum Thema erschienen.
Für seine Studie „Kur oder Verschickung?“ untersuchte der Historiker Hans-Walter Schmuhl die Kinderkuren Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK), die sich soeben als erster Träger überhaupt bei den damals Betroffenen entschuldigt hat. Von 1951 an verantwortete die DAK rund 450.000 Kinderkuren. Die neue Studie beleuchtet, was Kinder in kasseneigenen Heimen wie dem „Schuppenhörnle“ im Schwarzwald erlebten. „Bin ein kleiner Klecks von Mensch. Allein, hilflos“, schrieb ein damaliges Kurkind in einem Gedicht über diese Zeit. Allein sind die Kinder von damals, nach Jahrzehnten des Tabus, heute nicht mehr.