Sexuelle Befreiung mit Sexismus

Der Schurke erkennt im Spiegel seine eigene Niedertracht. Die Unschuld vom Lande sieht nur das Schlechte der Welt. Dabei wird Ellie bei ihrer Ankunft in der Metropole wirklich von allen gewarnt: „London kann einen überfordern.“ Die junge Frau, nach dem Suizid ihrer Mutter bei der Großmutter im provinziellen Cornwall aufgewachsen, besitzt allerdings auch ein feines Sensorium. Manchmal erscheint ihr die Mutter noch, wenn sie in ihrem Zimmer in einem selbstgeschneiderten Kleid aus alten Zeitungen zu den Hits aus den Sechzigern tanzt. Ellie will wie ihre Mutter Modedesignerin werden, doch verläuft ihre Ankunft in London anders, als sie sich diesen Lebenstraum ausgemalt hat. Ohnehin haben es ihre Träume in sich.

Die Filme des britischen Regisseurs Edgar Wright („Shaun of the Dead“) sind fest in der Popkultur verankert, das hat er mit seinem Seelenverwandten Quentin Tarantino gemeinsam. Wie auch die Liebe zur Musik: Gerade noch lief in den Kinos sein Dokumentarfilm über die Pop-Exzentriker The Sparks. Das Swinging London der sechziger Jahre gilt in der Pop-Historie als Ära der sexuellen Befreiung, dabei war es auch die Zeit, in der Michael Caine von Frauen noch als birds sprach.

Der Traum der Glitzermetropole, deren glamouröse Fassade bei genauerem Hinsehen bröckelt, besang Petula Clark breits 1964 in „Downtown“. In „Last Night in Soho“ haucht Anya Taylor-Joy nun auf einer Nachtclub-Bühne im pinken Chiffon-Minikleidchen eine Acapella-Version des Sixties–Klassikers für eine Gruppe Männer. Laszivität vermischt sich mit Unbehagen durch die taxierenden Blicke des ominösen Jack (Matt Smith), der Sandy verspricht, sie zum Star zu machen. Ellie, gespielt von der neuseeländischen Newcomerin Thomasin McKenzie, kann die Szene, die sich im Zwischenreich von Fantasie und Realität abspielt, nur stumm verfolgen.

In ihren Träumen stürzt sie sich mit (oder als?) Sandy in das Nachtleben eines längst vergangenen Soho – doch am nächsten Morgen findet sie an ihrem Hals tatsächlich einen Knutschfleck. Beginnt der Verstand ihr einen Streich zu spielen, wie zehn Jahre zuvor ihrer Mutter, die unter Psychosen litt?

Die dunkle Seite des Swinging London

Frauen mit mentalen Problemen sind in der Filmgeschichte ein beliebtes Thema von Psycho-Thrillern (meist männlicher Regisseure): Hitchcocks „Vertigo“ oder „Ekel“ von Roman Polanski, gewissermaßen das düstere Gegenstück zu Wrights schwelgerisch ausgeleuchtetem Swinging London. Fanboy Wright, in seinem ersten Film mit zwei weiblichen Hauptrollen, weiß um das verminte Terrain, auf das er sich mit seiner Musical-Fantasie begibt. Als Ellie/Sandy das erste Mal durch die Straßen des Westend streift, kündigt eine Kino-Markise groß „Feuerball“ an: Das Filmplakat zeigt Sean Connery umringt von leicht bekleideten Bond-Girls.

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Aber auch das Giallo-Genre in der Tradition Dario Argentos, der in seinen Horror-Thrillern immer wieder Kreativität bewies, wenn es darum ging, Frauen zu ermorden, steht in „Last Night in Soho“ Pate. Das Zimmer, das Ellie schließlich bei der schrulligen Miss Collins, gespielt von einer großartigen Diana Rigg in ihrer letzten Rolle, zur Untermiete bezieht, befindet sich direkt über einer Bar. Neonlichter tauchen die Träume der jungen Frau in dieses charakteristische Argento-Chiaroscuro aus Mitternachtsblau und Blutrot.

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Von den originalgetreu nachgebauten Genre-Reminiszenzen, mit denen sich Edgar Wright auch in Hollywood einen Namen gemacht hat, unterscheidet sich „Last Night in Soho“ nicht nur wegen seiner Hauptdarstellerinnen. Von einem Problembewusstsein für Genre-Konventionen blieben Wrights Filme bisher weitgehend unberührt. Es mag auch an Ko-Autorin Krysty Wilson-Cairns liegen, dass in „Last Night in Soho“ die traditionelle Misogynie des Psycho-Horrors nicht bloß ironische Zierrat ist. McKenzie hat bereits in der Hitler-Komödie „Jojo Rabbit“ gezeigt, dass sie es versteht, bloßen Opferfiguren Nuancen zu verleihen. Ellies überbordende Fantasie, zunächst eine Bürde, stellt sich schließlich als emanzipative Superkraft heraus.

Wright hat seinen Film der vor einem Jahr verstorbenen Diana Rigg gewidmet, mit den Sechziger-Jahre-Ikonen Terence Stamp und Rita Tushingham in Nebenrollen wird seine Horror-Hommage an das Swinging London tatsächlich zu mehr als einer reinen Stilübung – sonst eher ein Problem seiner Filme. Dass Wright mit Popsongs gute Geschichten erzählen kann, ist bekannt. In „Last Night in Soho“ gibt er nun mit seinen beiden Hauptdarstellerinnen seinen pubertären Pop-Fantasien auch eine dramatische Fallhöhe. (In 16 Berliner Kinos, auch OV und OmU)