Özlem Altın in der Berlinischen Galerie: Gewebe und Gefühle
Preise sind gerade ein Thema im Werk von Özlem Altın. Dieses Jahr hat sie gleich zwei wichtige Auszeichnungen bekommen: den Hannah-Höch-Förderpreis und den mit einem Ankauf verbundenen Tiemann-Preis. Am 23. Oktober gehen zwei maßgebliche Dyptichen der in Berlin lebenden Künstlerin an das Kunstmuseum Magdeburg und werden dort nach ihrer feierlichen Übergabe ausgestellt.
„Naked Eye (landscape)“ heißt eines der Werke, für die sich das Museum um jene 50.000 Euro beworben hat, die die Tiemann-Stiftung nun zum zweiten Mal vergab. Das Bild, das zusammen mit dem zweiteiligen Werk „Hieroglyph (transfer through touch)“ und „Hieroglyph (mechanism)“ in den Besitz der Institution übergeht, konnte die Jury überzeugen – es passt zur Sammlung und steht für eine vielversprechende zeitgenössische Kunst, die auch in einigen Dekaden noch dem kritischen Blick standhalten soll.
Damit lehnt sich die Jury weit aus dem Fenster. Prognosen, welche Malerei – der privaten Stiftung geht es ausschließlich um die „Förderung einer herausragenden malerischen Position“ – die Gegenwart überdauert, sind immer riskant. Doch Altın hat auch das Gremium für den Hannah-Höch-Förderpreis überzeugt: Er wird seit 2011 im zweijährigen Rhythmus für das Gesamtwerk einer jüngeren Generation vergeben, sein Preisgeld von 38.000 Euro verbindet sich mit einer Ausstellung, die aktuell in der Berlinischen Galerie stattfindet.
Überbordende Schau
Es ist eine kleine und dennoch überbordende Schau mit der Chance, sich selbst einen Eindruck von Altıns Wirken zu machen. „Eine Reise ins Körperinnere“ nennt die Künstlerin ihre Bilder-Mixtur aus diversen Jahren, vor die sich im Eingang zum Ausstellungsraum drei tiefrote Folien senken. Wie Vorhänge, die das Werk vor dem schnellen optischen Zugriff schützen, während sie durch halbtransparente Fenster zugleich einzelne Arbeiten sichtbar machen.
Diese Parallelität einander widersprechender Zustände führt einen mitten das Universum der Künstlerin. Özlem Altın, Jahrgang 1977, vermeidet jede einengende Festlegung. Sie verwendet Farbe und positive wie negative Fotografien, malt abstrakt und figürlich, schaut auf Landschaften und zugleich tief unter deren Oberflächen. Oder malt sie Haut und taucht im selben Moment in das Innere des Körpers, der aus Blut und Zellen, Gewebe und Gefühlen besteht?
Das bleibt in der Schwebe, besser: Die Perspektive wechselt ständig. Betrachtend verliert man den Halt, was aber nicht unangenehm ist. Wer das Fluide in den Gemälden für sich nutzt, und akzeptiert, dass Altın weder eine Hierarchie der abgebildeten Objekte, noch lineare Erzählungen anstrebt, der sensibilisiert die eigene Wahrnehmung.
Rot leuchtendes Schlüsselwerk
Aus einem Pool von Found Footage oder selbst Fotografiertem fischt sie immer wieder Motive, die übergroß auf grundierte Leinwände gedruckt wurden. Nach ihrer teilweisen Übermalung bleiben lauter Fragmente: tastende Hände, Arme wie Ranken, Pflanzenteile, Tierköpfe und immer wieder Augen. Wie auf dem Querformat „Naked Eye (landscape)“ von 2022, das zentral in der Berlinischen Galerie hängt, bevor es nach Magdeburg umzieht. Ein rot leuchtendes Schlüsselwerk, in dem Altıns künstlerische Absichten kulminieren.
Jedes der beiden Bildteile wird von einem monumentalen Auge beherrscht. Kreisrund, wimpernlos und dunkel wie das Tor zu einer Höhle. Für Altın sind es „Portale“, die den Weg in ein Zwischenreich ebnen. Ihre Bilder führen an Orte, die weder innen noch außen, nicht konkret und schon gar nicht rein ephemer sind. Im Werk dieser spannenden Künstlerin sitzt man immer dazwischen.
Im Katalog zur Ausstellung mahnt die Autorin Maren Lübbke-Tidow, „das Wahrnehmen also vor das Verstehen zu setzen“. Tatsächlich animieren die rätselhaften Geflechte aus Körpern und Dingen im Strom der Farbwirbel zur assoziativen Rezeption. Sie holen Gesten, Erinnerungen, verletzliche Intimität und ein privates Bildarchiv an die Oberfläche: Özlem Altın wagt viel. Ihre Arbeiten überwinden Distanzen, Raum und Zeit verschwinden. An ihre Stelle treten fragile Netzwerke, in denen sich Mensch und Tier, Mythen und Masken miteinander verbinden.
Traumbildartig vermischt sich Geschichte und Gegenwart, Wüste und Wasser, das Unbewusste mit uralten Ritualen, in denen Schlangen und (möglicherweise) Eingeweide dazu gehörten. „Prisma“, der Titel der Ausstellung in der Berlinischen Galerie, spielt auf jenen Zustand an, in den Özlem Altın die Betrachter ihrer Kunst versetzt. Als entfalte sie ein Kaleidoskop paralleler Eindrücke, die vor ihrer analytischen Rezeption erst einmal nur wirken wollen.
Die Augen fungieren als Tor, reflektiert wird das Gesehene jenseits der Netzhaut auf dem komplexen Weg zum Gehirn. Oder auf Bildern wie „Naked Eye (landscape)“ als Ort der Schwingungen, Überlagerungen, Erkenntnisse. Altın verlagert den Prozess ein Stück weit in ihre Kunst. Zeitlos und voller Neugier auf die Frage, wieviel wir eigentlich über uns selbst wissen.